Schwarz wie Samt
überhaupt nichts erkennen, außer einer Menge Menschen, die wie verrückt rannten und Sektflaschen schwenkten. Teilweise weinten die Leute und umarmten sich. Auch meine Mutter hatte Tränen in den Augen.
„Was ist los, Mama, was ist geschehen?“, fragte ich, indem ich mich neben ihren Sessel stellte. „Die Berliner Mauer ist gefallen“, stammelte sie. Der Bericht im Fernseher zeigte den Grenzübergang „Checkpoint Charly“, den wir immer wieder überquert hatten. Die Barrikaden waren weggeräumt und die Menschen strömten hindurch. Mein Vater war aufgestanden und hatte eine Flasche Champagner geholt. Wir stießen auf dieses Ereignis an. Noch war mir nicht klar, was das für uns bedeuten würde. Die Augen meiner Mutter leuchteten und ich hatte meine Eltern noch nie so glücklich gesehen. Obwohl der Bericht im TV nur sehr kurz gewesen war, stand fest: Es gab kein Ostberlin mehr. Meine Eltern diskutierten bis spät in die Nacht. Ich legte mich irgendwann hin. Der Jetlag hatte mich eingeholt.
Am nächsten Morgen telefonierte mein Vater mit der Kenianischen Botschaft in Berlin. Er ließ sich einen Bericht der dortigen Lage zufaxen. Es war plötzlich nicht mehr die Rede von Strand und Luxusleben. Meine Eltern wollten sofort nach Berlin abreisen. Ich versuchte vergeblich, sie umzustimmen. Wir waren doch erst angekommen. Sie hatten mir diesen Urlaub versprochen. Meine Mutter versuchte mich zu trösten mit der Aussicht: „Du kannst dir dein Hotel jetzt anschauen und es hoffentlich auch in Besitz nehmen. Es gibt so viel zu tun. Wir werden diesen Urlaub irgendwann nachholen.“
Natürlich hatte sie recht. Man wusste nicht, wie sich die Dinge entwickeln würden. Der Mauerfall war so überraschend gekommen, vielleicht kam es noch zu weiteren Zwischenfällen. Meine Eltern hatten keine andere Wahl. Meine Mutter war jetzt eine reiche Frau mit einer Hotelkette von 4 Häusern, meines nicht mitgerechnet. Wir würden alle Hände voll zu tun haben, uns um diesen Nachlass zu kümmern.
Wie immer, wenn ich in Deutschland ankam, war schlechtes Wetter. Berlin war unter einer Dunstglocke begraben, als wir landeten. Wir froren in unseren dünnen Urlaubssachen und meine Mutter rief sofort nach der Landung in ihrer Lieblingsboutique an und forderte die Inhaberin auf, uns eine Auswahl Kleidung ins Hotel zu schicken. Wir würden uns keine Zeit für einen Stadtbummel nehmen. Ich war frustriert.
Neu eingekleidet, aber leider nach dem Geschmack meiner Mutter, machten wir uns auf den Weg ins ehemalige Ostberlin. Die Euphorie in der Bevölkerung hielt unverändert an. Die Straßen waren noch immer voll mit feiernden Menschen und die Straßenbahnen waren überfüllt. Wir fuhren über den Grenzübergang, der keiner mehr war. Niemand kontrollierte unser Pässe, niemand sah neugierig ins Wageninnere und die übliche Beklemmung, die ich in solchen Situationen bekam, blieb aus. Mein Vater hatte sich dieses Mal auch ein ganz normales Auto geliehen, wir fuhren nicht mit dem Diplomatenwagen.
Wir steuerten das größte der Hotels an, die meine Mutter geerbt hatte. Es war ein riesiges Gebäude mit einer Jugendstilfront. 250 Zimmer und 10 Suiten auf 5 Stockwerken verteilt. Der Empfang verlief sehr unkoordiniert und etwas frostig. Die Hotelleitung, die von meinem Onkel eingesetzt worden war, hatte sich zu einer Lagebesprechung zurückgezogen. Wir platzten mitten hinein. Meine Mutter stellte sich als neue Besitzerin vor und erntete zunächst nur Misstrauen. Erst als der Verwalter sich von der Richtigkeit ihrer Papiere überzeugt hatte, wurde er freundlicher und wir wurden aufgefordert, in der Lobby Platz zu nehmen. Der abgewetzte Marmorfußboden und die plüschige Atmosphäre versetzte uns in das letzte Jahrhundert. Die Brokatvorhänge hatten auch schon bessere Zeiten gesehen und die Lüster schwebten glanzlos über unseren Köpfen.
Der Leiter des Hotels kam mit ein paar Angestellten und führte uns durch die verschiedenen Stockwerke. Es war überall das Gleiche: abgewohnte, uralte Tapeten, zum großen Teil verschlissen und verschmutzt. Die Einrichtung war einfach nur grauenhaft. Es war alles in sehr gedämpften Farben gehalten. Sogar die Bilder an den Wänden waren vergraut. Der alte Paternoster fuhr geräuschvoll und stockend in die oberen Etagen. Die Balkone waren von Taubenkot verdreckt, die sanitären Anlagen seit Jahren nicht überholt worden. Wir waren entsetzt. Meine Mutter brach die Besichtigung vorzeitig ab. Wir hatten genug gesehen.
Nach
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