Schwarz
auf deinem Gesicht, in deinem Mund und deinem Hals. Konzentriere dich auf alle Geräusche im Zimmer, setz deinen Geruchssinn und deinen Tastsinn bewusst ein. Spüre, wie sich deine Kleidung auf der Haut anfühlt, schließ die Augen und ruf dir alles in Erinnerung, was du heute gesehen hast …«
Plötzlich klingelte das Telefon. Gilmartin und Grover schauten sich an, beide scheuten sich, nach dem Hörer zu greifen. Schließlich nahm Betha ab, schaltete den Lautsprecher ein und meldete sich in gereiztem Ton.
»Hast du Stift und Papier, ich gebe dir die Koordinaten des Standorts der Rakete durch«, sagte Leo Kara.
Betha brauchte eine Weile, bis sie den Sinn seiner Worte erfasste und den Mund aufbekam. Für Fragen blieb keine Zeit. »Na los, sag an.«
»Die Rakete befindet sich 19°24’54.79’’ nördlicher Breite und 22°45’15.41’’ östlicher Länge des Koordinatensystems WGS84.«
»Wohin wird sie geschossen?«, fragte Betha. »Kennst du die Koordinaten des Ziels?«
»Nein.«
Grover tippte die Zahlen in den Computer ein, und das Satellitenkartenprogramm richtete das Bild auf die Wüste in der Nähe eines Gebirges aus. »Da ist sie – die Rakete.«
***
Der UN-Generalsekretär, der UNODC-Generaldirektor Gilbert Birou und die Vize-Generalsekretärin Ronibala Kumari saßen in der UNO-City im Besprechungszimmer der dreizehnten Etage des Hauses E. Schon seit einer Ewigkeit hatte niemand etwas gesagt. Birou beobachtete den Generalsekretär wie ein Kammerdiener, Kumari starrte auf die Nachrichtensendung der BBC World News, undder Generalsekretär war in Gedanken versunken. Bis zum Start der Rakete blieben noch fünf Minuten.
Wien war neben New York, Genf und Nairobi einer der vier Hauptsitze der UN, also reiste der Generalsekretär in regelmäßigen Abständen nach Österreich. Jetzt war er schon das zweite Mal innerhalb von vierzehn Tagen hier zu Gast. Der Anlass war diesmal die Einweihung des neuen umweltfreundlichen Konferenzgebäudes der UNO-City gemeinsam mit dem österreichischen Außenminister.
»Der Zweite Vizepräsident des Sudan, Rashid Osman, ist im Nordsudan ums Leben gekommen, als sein Hubschrauber angegriffen und zerstört wurde«, hieß es in den Nachrichten, und der Generalsekretär hob den Blick zu dem BBC-Reporter, der am sonnigen Golf von Aden in die Kamera schaute.
»Nach unbestätigten Informationen wurde der Hubschrauber mit Osman von zwei britischen Harrier-Jagdflugzeugen abgeschossen. Auf ihre Mission geschickt wurden die Maschinen vom Flaggschiff der Royal Navy, dem Flugzeugträger ›Ark Royal‹, der vorgestern hier vor Djibouti Anker geworfen hat. Das Außenministerium Großbritanniens ist nicht bereit, Behauptungen zu kommentieren, wonach Vizepräsident Osman für den Raketenanschlag vor zwei Wochen auf das UN-Hauptquartier in Nairobi verantwortlich sein soll.«
»Könnt ihr mich bitte einen Augenblick allein lassen, ich muss telefonieren«, log der Generalsekretär, um seine Kollegen loszuwerden. Als Birou und Kumari gegangen waren, legte er den Kopf auf die kühle Oberfläche des Beratungstischs und schloss die Augen.
Ein Tag, ein Augenblick und eine Entscheidung konnten das Leben eines Menschen gründlich verändern. Er hatte solch einen Tag am 16. September 1990 im äthiopischen Itang erlebt und sah alles noch genauso deutlich vor sich wie damals. An jedes Detail erinnerte er sich, an die Blutspritzer, den Schmerzensschrei, die angsterfüllten Rufe und den flehenden Blick. Dieser verfluchte Tag hatte seine Seele gebrandmarkt, schon seit zwanzig Jahren trug er die Schande und die Reue mit sich herum.
Es war seine erste Fahrt allein in das Flüchtlingslager Itang gewesen, das die Kämpfer der SPLA als ihren Stützpunkt nutzten. Ein drückend heißer Tag in seiner zweiten Arbeitswoche als Angestellterder UN-Flüchtlingsorganisation. Das schweißnasse Hemd klebte ihm am Rücken. Und dann tauchte der Jugendliche mit entsetzter Miene wie aus dem Nichts vor seinem UN-Jeep auf und gestikulierte wild, um ihn zum Anhalten zu bewegen. Die SPLA-Soldaten im Wald schwenkten ihre Messer, das Blut strömte aus dem Hals des kleinen Jungen, als der Kämpfer ihm die Kehle durchschnitt. Er spürte wieder die lähmende Todesangst, das Entsetzen, das ihn schließlich zur Flucht zwang. Der bestürzte Gesichtsausdruck des Jungen, der mit der Faust auf die Motorhaube einschlug, sein verzweifeltes Flehen um Hilfe …
Das Erlebnis von Itang hatte ihn nie wieder in Ruhe gelassen und an den Rand
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