Schwarz
Kreischen hörte man nicht, die Fenster von Legoland ließen kein Geräusch durchdringen. So frustriert war sie seit der Polonium-Vergiftung Aleksander Litwinenkos nicht mehr gewesen. Damals hatte sie einen schweren Fehler begangen, es war falsch gewesen, den russischen Exagenten zu engagieren.
Der Krisenstab Shield arbeitete rund um die Uhr, Hunderte Menschen sichteten Tausende und Abertausende Informationssplitter aus den unsichtbaren Datenströmen, die überall flossen, aber Resultate blieben aus. Wäre der Raketenanschlag von irgendeiner Terrororganisation geplant worden, dann wüsste es die weltumspannende Geheimdienstgemeinde schon, darauf hätte Betha Gilmartin ihren Kopf gewettet.
Die drei Jahrzehnte beim Nachrichtendienst hatten sie manches gelehrt, aber seine wichtigsten Fähigkeiten erlernte der Mensch nicht, die bekam er geschenkt als Begabung. Und ihr Instinkt sagte, dass schwere Zeiten nahten, und zwar im Eiltempo. Sie warf einen Blick auf die gerahmten Fotos am Rande ihres Schreibtischs – ihr Mann Albert und ihr Schützling Leo. Auch die beiden machten ein ernstes Gesicht. Betha Gilmartins Kummer nahm noch zu, als sie daran dachte, dass Leo erneut den Tod eines ihm nahestehenden Menschen verarbeiten musste. Wie würde seine Psyche das verkraften? Sobald die Ermittlungen zu dem Raketenanschlag abgeschlossen waren, würde sie Albert zwingen, Urlaub zu nehmen, und Leo überreden, mit ihnen eine Woche nach Torquay in ihr Ferienhaus zu fahren. Das nahm sich Betha Gilmartin fest vor. Und diesmal würde sie den Jungen nicht bis zur Erschöpfung im Garten arbeiten lassen.In diesem Augenblick ertönte der Summer an der Tür. Betha Gilmartin schnallte das Korsett um und steckte ihre Haare hoch, bevor sie den Besucher eintreten ließ.
»Entschuldige, dass es eine Weile gedauert hat. Als ich mich endlich loseisen konnte, bin ich sofort hergekommen«, sagte Clive Grover. Der Chef des Krisenstabs stand unter Hochspannung, die graue Löwenmähne sah noch wilder aus als sonst, und der Kragen des pinkfarbenen Hemdes war offen und verrutscht. In Betha Gilmartins Gesellschaft störte das nicht.
»Setz dich auf deinen Hintern, nimm dir einen Tee und entspann dich«, befahl Betha Gilmartin. Sie galt im SIS als die Ruhe in Person, doch keiner ihrer Kollegen ahnte, was der Grund für ihre unvergleichliche Gelassenheit war. Wegen des angeborenen Herzfehlers durfte ihr Puls nicht auf einen Wert über 120 steigen. Das hatten die Ärzte so angeordnet. Betha kannte so gut wie alles, was in den letzten dreißig Jahren über das Thema »Wie beherrsche ich meine Aggressionen« geschrieben worden war. Selbstkontrolle war für sie eine Überlebensvoraussetzung.
Sie goss Tee in Grovers Tasse, gab einen Schluck Milch dazu und drei Löffel Zucker und rührte um. Dabei versuchte sie an seinem Verhalten zu erkennen, ob er es ihr übelnahm, dass sie ihn gebeten hatte, ihr persönlich ab und zu eine Zusammenfassung der Ermittlungen zu geben. Als Leiter des Krisenstabs Shield besaß Grover im Moment größere Vollmachten als sie, ihm stand der ganze britische Machtapparat zur Verfügung. Aber Grover wirkte nicht verärgert, ihm war vermutlich klar, dass die Arbeit der Shield-Gruppe in Kürze zu Ende wäre, während Betha Gilmartin noch Jahre Chefin des SIS sein würde. Grover war durch und durch ein Mann der »Firma«, der Sinn für Diplomatie war in ihrem Beruf unentbehrlich.
»Die guten oder die schlechten zuerst?«, fragte Grover, fuhr aber fort, ohne Betha Gilmartins Antwort abzuwarten.
»Die Ermittlungen zu Globeguide haben jede Menge neue Erkenntnisse gebracht. Es sind insgesamt fünf Steuerungssysteme verschwunden. Zuletzt gesehen hat man sie auf dem Flughafen Schiphol in Holland. Dort wurden sie an das LuftfrachtunternehmenChess Air des Witwenmachers Ruslan Sokolow übergeben, der sie unter Verwendung von gefälschten Endverbleibserklärungen nach Khartoum fliegen ließ. Nach den Informationen, die wir von den finnischen Behörden erhalten haben, hat der Hersteller von Globeguide mit dieser Geschichte nichts zu tun.«
»Dieser Misthaufen stammt also nicht von den Finnen?«
»Kaum. Allerdings ist es ziemlich interessant, dass in der Zentrale der finnischen Kriminalpolizei derzeit Ermittlungen gegen zwei Firmen laufen: gegen den Hersteller von Globeguide, der Bestechungsgelder an die kroatischen Behörden verteilt hat, und gegen den finnischen Hersteller von Raketenabschussrampen wegen Schmuggel und Verstoß gegen das
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