Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung
glaubwürdigen, gebildeten, armen und sittenstrengen Geistlichkeit verschwanden nicht, im Gegenteil.
Verlorenes Böhmen
Von ihrem vermeintlichen Erfolg gegen Katharer und Waldenser beflügelt, hielt es die Kirchenführung für richtig, jeder neu aufflammenden kirchenkritischen Bewegung gewaltsam entgegenzutreten. Im Jahr 1415 führte diese Politik der harten Linie zur Verurteilung des böhmischen Reformators Jan Hus durch das Konzil von Konstanz und seiner öffentlichen Verbrennung als Ketzer. Nicht einmal das vom Kaiser zugesagte freie Geleit für die Zeit des Konzils konnte diese Untat verhindern. Als Folge dieser Hinrichtung brachen die fast zwanzig Jahre währenden Hussitenkriege aus, die Böhmen und seine Nachbarländer verwüsteten und unzählige Menschen das Leben kosteten. Fünf Kreuzzugsaufrufe der Kirche waren nötig, um die Kämpfe zu ersticken, eine Aussöhnung mit dem harten Kern der Hussiten wurde weder erstrebt noch erreicht. Auf die Idee, dass in der Kirche ein genereller Reformbedarf herrschte und ein anderer Umgang mit den ständig neu aufflackernden kirchenkritischen Bewegungen zu nachhaltigeren Ergebnissen führen könnte, statt gleich brutale Gewalt einzusetzen, kam offenbar niemand. Der bewaffnete Kampf war eben längst üblich geworden als Mittel für die Verbreitung und Durchsetzung oder Wiederherstellung des wahren Glaubens. Dennoch musste die Kirche es hinnehmen, dass den böhmischen Hussiten Sonderrechte zugestanden wurden und etwa auch Laien den in das Blut Christi verwandelten Wein empfangen durften. Und ein paar Jahre nach der Jahrhundertmitte gab es mit Georg von Podiebrad einen böhmischen König, der nicht katholisch war, sondern den Lehren Hus’ anhing, was der Papst als persönliche Schmach empfand. Erst nach 1620 gelang der Kirche in Verbindung mit dem Sieg des Hauses Habsburg gegen die hussitischen Adeligen die vollständige Rekatholisierung der Böhmen.
In der ersten großen militärischen Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges, der Schlacht am Weißen Berg in der Nähe von Prag 1620 , bediente sich der Heerführer der Katholischen Liga altbekannter Tricks. Ein Dominikanermönch präsentierte den Soldaten ein angeblich von Hussiten geschändetes Bild der Heiligen Familie, bei dem der Muttergottes die Augen ausgestochen worden waren. Also zogen die Katholiken, in der Absicht ihre entwürdigte Heilige zu rächen, mit dem Schlachtruf »Santa Maria« in das Gefecht und siegten. Das Bild ist heute noch in der prächtigen Barockkirche Santa Maria della Vittoria in Rom zu sehen, die zum Gedenken an die Schlacht am Weißen Berg erbaut wurde.
Wenngleich Böhmen nach dem Sieg der Kaiserlichen äußerlich wieder katholisch war, konnte die Kirche die Herzen vieler Menschen nicht mehr erreichen. Die Verehrung von Jan Hus als böhmischen Nationalhelden gewann stetig an Popularität, und als 1926 der große Präsident der Tschechoslowakischen Republik, Tomas Masaryk, den 6 . Juli, Hus’ Todestag, zum Staatsfeiertag erklärte, reagierte Papst Pius XI . beleidigt und unterbrach für drei Jahre die diplomatischen Beziehungen zur Prager Regierung. Und das große Anliegen des früheren Prager Erzbischofs Kardinal Vlk, Jan Hus zu rehabilitieren, schlummert seit 1996 in römischen Akten. Dass die katholische Kirche heute in Tschechien im Vergleich zu Polen, Ungarn und der Slowakei vergleichsweise schlecht dasteht und Tschechien den höchsten Anteil von Konfessionslosen unter den Ländern des früheren Ostblocks aufweist, hat viel mit der Geschichte von Jan Hus zu tun. Jan Hus ist nicht nur tschechischer Nationalheld, sondern ein Vorkämpfer der Gewissensfreiheit und verdiente unter dem Blickwinkel der heutigen kirchlichen Lehre durchaus Anerkennung. An seinem Beispiel zeigt sich erneut, wie die Sünden der Kirche vor Jahrhunderten noch Auswirkungen bis heute zeitigen und wie schwer der Kirche das Eingeständnis fällt, Fehler gemacht zu haben, auch wenn diese lange zurückliegen. Gerade im Fall Jan Hus kann es heute nicht mehr an fehlender Einsicht in das alte Unrecht liegen. Papst Johannes Paul II . hat 1999 vor Historikern den falschen Umgang mit Hus eingestanden. Ist es also Angst vor einem Autoritätsverlust, der Rom zögern lässt? Denn die öffentliche Rehabilitation eines von der Kirche einmal verurteilten Mannes könnte ja Zweifel an der Richtigkeit noch ganz anderer Urteile der Kirche wecken. Angst ist eben ein schlechter Ratgeber.
Die Liturgie des Todes
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