Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung
Moraltheologe Charles Curran wurde 1986 von seinem Lehrstuhl an der Catholic University of America verbannt. Er hatte in praktisch allen Fragen der Sexualmoral andere Auffassungen als die Kirche gelehrt und zudem die Ansicht vertreten, jeder Gläubige dürfe von der kirchlichen Lehrmeinung abweichen, solange diese vom Papst nicht als unfehlbar bezeichnet würde. In allen drei Fällen war theologische Kritik an der Lehrautorität der Kirche und /oder des Papstes geäußert worden. Aus ähnlichen Gründen ging die Glaubenskongregation auch gegen den französischen Priester Georges de Nantes vor, der das Zweite Vatikanische Konzil als häretisch bezeichnete. Erfolg war der Kirche auch in diesem Fall nicht beschieden: Georges de Nantes setzte seine polemische Kampagne zusammen mit einer kleinen, von ihm begründeten klösterlichen Gemeinschaft bis zu seinem Tod im Jahr 2010 fort.
Auch wenn die Glaubenskongregation kaum noch über die Möglichkeit verfügt, die eigene Auffassung von Theologie und Moral in der Kirche zwangsweise durchzusetzen, hält sie bis heute an ihrem Anspruch fest, die verbindliche Wahrheit festlegen zu können und zu dürfen. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ging sie dazu über, zu umstrittenen Fragen längere positive Darstellungen der offiziellen Lehre zu veröffentlichen, anstelle wie früher nur falsche Lehrmeinungen zu verurteilen. Zuletzt ist Ende 2008 ein Dokument zur Bioethik erschienen. Seit einigen Jahren wird auch der alte Anspruch der Kirche wieder deutlich vertreten, gültige Wahrheiten nicht nur für Christen, sondern für alle Menschen zu verkünden. So heißt es etwa in den »Erwägungen« zu Lebensgemeinschaften von Homosexuellen aus dem Jahr 2003 ausdrücklich: »Diese Erwägungen haben auch zum Ziel, die katholischen Politiker in ihrer Tätigkeit zu orientieren und ihnen die Verhaltensweisen darzulegen, die mit dem christlichen Gewissen übereinstimmen, wenn sie mit Gesetzesentwürfen bezüglich dieses Problems konfrontiert werden.[…] Weil es sich um eine Materie handelt, die das natürliche Sittengesetz betrifft, werden die folgenden Argumente nicht nur den Gläubigen vorgelegt, sondern allen Menschen, die sich für die Förderung und den Schutz des Gemeinwohls der Gesellschaft einsetzen.«
Es scheint, in der Glaubenskongregation haben nicht nur die Büromöbel einige Jahrhunderte auf dem Buckel, auch der alte Geist der Inquisition spukt noch durch die Säle. Immer noch sollen nicht nur ganz wichtige Grundwahrheiten des Glaubens für alle verbindlich geregelt werden, nein, selbst Antworten auf zweit- und drittrangige Fragen aus Theologie, Moral, Gesellschaft und Politik werden mit voller Autorität der Kirche für alle gegeben. Die Einsicht, dass nicht nur hier und da, sondern doch ziemlich häufig in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden und alte Entscheidungen daher öfter revidiert werden mussten, hat nicht zu einer weitergehenden Analyse des Kernproblems geführt, mindestens sind daraus keine Konsequenzen gezogen worden. Das Grundproblem besteht darin, dass zumindest die Formulierung jeder Erkenntnis nicht absolut für alle Zeiten erfolgen kann, sondern jeweils historisch bedingt ist. Jeder Text altert und wird nach Generationen nicht mehr verstanden. Er muss neu interpretiert oder sogar neu formuliert werden. Gerade wer davon ausgeht, dass der Inhalt des Glaubens eine überzeitliche Wahrheit darstellt, muss diesen Glaubensinhalt deutlich vom Reden darüber unterscheiden.
Auch der kulturelle Hintergrund der Formulierung einer Wahrheit – ein Aspekt, der in der Kirche bisher kaum eine Rolle spielte, weil sich das gesamte theologische Denken in der Tradition der abendländischen Philosophie bewegte – muss berücksichtigt werden. Auch dies hinterfragt die Auffassung von einer ein für alle Mal verbindlich fixierten kirchlichen Lehre.
In der Begegnung mit den fernöstlichen Kulturen lernte die Kirche erstmals große, ebenbürtige Gegenspieler in den religiösen und philosophischen Traditionen des Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus kennen. Schon die ersten Jesuitenmissionare begriffen, dass das asiatische Feld anders zu beackern war, als sie es von der Missionstätigkeit in Afrika oder Amerika gewohnt waren. Inzwischen gibt es katholische Theologieprofessoren, die aus asiatischer Tradition kommen, und aus dieser Tradition schöpft man zunehmend an Universitäten in Amerika und Europa. Und schon verdächtigt die Kirche sie des »Relativismus«, weil sie
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