Schwarzbuch ÖBB
über die Stiege wieder nach unten und bewege mich auf einer unterirdischen Passage in Richtung Hauptbahnhof.
Hin und her
Das ist gar nicht so einfach, denn die Beschilderung ist, salopp ausgedrückt, saumäßig. Nach etwa hundert Metern erweitert sich die Passage, und ich habe die Wahl zwischen mehreren Ausgängen. Wo ist der Hauptbahnhof? Nach längerem Suchen entdecke ich einen an der Wand angebrachten, handgeschriebenen Zettel, der mit einem Pfeil zum »Hauptbahnhof« weist. Ich gehe also weiter und lande in einer Sackgasse. Auch nach längerem Suchen finde ich keinen Hinweis, wo nun der »Hauptbahnhof« ist.
Hoch
Stattdessen bieten sich mir drei Möglichkeiten, auf einen Bahnsteig zu gelangen, per Lift, per Rolltreppe oder zu Fuß über eine Stiege. Wenn es Bahnsteige gibt, muss es ja wohl auch einen dazugehörigen Hauptbahnhof und eine Bahnhofshalle geben, denke ich. Und weil ich einen schweren Koffer dabeihabe, entscheide ich mich für den Lift und fahre zwei Stockwerke höher, zu den Bahnsteigen 9, 10, 11 und 12. Beim Aussteigen erwartet mich eine Überraschung: Ich befinde mich nun im Freien, und weil es heftig regnet, werde ich nass. Hier ist weit und breit kein Bahnsteig zu sehen, jedoch ein Pfeil, der in Richtung »Hauptbahnhof« weist.
In einem weiteren Bahnhofs-Test am 11. Juli 2013 muss ich feststellen, dass die Wege und Hinweisschilder nicht besser, sondern noch viel verwirrender geworden sind.
Eine Baustelle
Ich beschließe, den Regen zu ignorieren und dem Pfeil zu folgen, biege zweimal um die Ecke und gehe fünfzig Meter eine mit Holzplatten abgeschirmte Baustelle entlang. Schließlich lande ich in einer provisorischen Schalterhalle. Nebenan befindet sich das Herren-Klosett mit drei Pissoirs und vier Toiletten. Ob das ausreicht für Zehntausende von Reisenden, die laut Prognosen hier jeden Tag den Bahnhof benützen sollen?
Der Wartesaal
Aber wo sind nun die Bahnsteige? Dazu muss ich wieder ins Freie hinaus. Zum Bahnhofseingang sind es etwa hundert Meter zu Fuß. Immerhin ist diese Strecke überdacht. Über das pompöse gläserne Vordach betrete ich nun den Eingang und erlebe die nächste Enttäuschung. Ich hatte eine Bahnhofshalle erwartet, aber so etwas gibt es hier nicht. Der erste Raum enthält nur Fahrpläne. Und der darauf folgende Raum ist ein Wartesaal. Dort gibt es zwar Sitzgelegenheiten im Flughafendesign, aber keine Anzeigetafel für ankommende und abfahrende Züge. Dazu muss man wieder in den Nebenraum gehen.
Der schlimmste Planungsfehler ist jedoch, dass der Wartesaal im Winter ein kalter, zugiger Ort ist. Von oben, von den Bahnsteigen, pfeift ungehindert der eisige Wind herein.
Am Bahnsteig
Flieht man vor der Kälte hinauf auf den Bahnsteig, steht man unter dem vielgerühmten Rautendach – und erlebt hautnah das nächste Planungsdesaster. Denn in diesem Bereich bietet das Dach zwar Schutz von oben, aber nicht von der Seite, und so kann der Wind ungehindert durchziehen. Außerdem überdeckt das Rautendach nicht durchgängig alle zehn Gleise, sondern spaltet sich hundert Meter weiter in fünf einzelne Bahnsteigüberdachungen auf.
Warum, so fragt man sich als Reisender, wurde keine große Halle gebaut? Die ÖBB hätten sich ja den Berliner Hauptbahnhof zum Vorbild nehmen können, der während der Bauphase zwar auch heftig geschmäht wurde, aber nur wenig teurer war und ein unvergleichlich moderneres, größeres und schöneres Bauwerk ist. Die ÖBB erklären, dass eine Hallenkonstruktion anstelle des Rautendaches sehr viel teurer gewesen wäre und der damit verbundene Brandschutz ebenfalls zu teuer geworden wäre.
Windrichtungen
Eine große Halle sei auch deshalb nicht sinnvoll gewesen, erklären die ÖBB , weil die Bahnsteige am Wiener Hauptbahnhof an der Haupt-Windrichtung ausgerichtet seien und damit der Wind verstärkt worden wäre. Dass dieses Argument falsch ist, zeigt ein einziger Blick auf den Lageplan. Denn die Bahnsteig-Richtung unterscheidet sich beträchtlich von der offiziellen Haupt-Windrichtung. Offenbar war den ÖBB ein architektonischer Blickfang für Bahnorama-Besucher oder Hubschrauber-Piloten wichtiger als der Komfort für Reisende.
Weit ist der Weg
Was am neuen Hauptbahnhof besonders auffällt, sind die sehr langen Bahnsteige. Wer am Ende eines von Osten oder Norden kommenden Fernzuges aussteigt, hat bis zum Wartesaal einen Fußweg von fast einem halben Kilometer vor sich. Von dort sind es noch einmal einige hundert Meter bis zur U1 . Dafür benötigt man
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