Schwarzbuch ÖBB
WEST bahn durchzusetzen. Und das, obwohl es sich dabei um Nahverkehr handelt, für den das Land Niederösterreich normalerweise Geld zuschießen müsste.
Ein Geisterbahnhof
Von Wien aus erreicht man Tullnerfeld mit dem Schnellzug in achtzehn Minuten. Wer sich morgens dort aufhält, kann beobachten, dass fast alle Pendler nach Wien fahren und nur wenige nach St. Pölten. Kaum jemand steigt hier aus, und auch die Regionalzüge sind fast leer. Nach acht Uhr in der Früh fällt der Bahnhof in tiefen Schlaf und erwacht erst wieder, wenn die Pendler von ihrer Arbeit zurückkehren. Es gibt nichts, was Reisende zum Bleiben anregen könnte, keine Geschäfte, keine Cafés, keine Aufregungen. Auch die Umgebung ist kein Anziehungspunkt. In der Ferne sieht man einen Raiffeisenturm und eine rauchende Fabrik. Manchmal riecht es intensiv nach Schweinemist.
Irgendwann, erklärt die hier arbeitende Putzfrau, sollen Geschäfte und Büros entstehen. Sie glaubt nicht daran.
5. Eisenbahner-Himmel
Nicht mehr arbeiten zu können – das wäre für mich eine Strafe. Die Mehrheit der Österreicher sieht das wohl anders – für sie ist Arbeit eine Strafe. Wer kann, geht so früh wie möglich in Pension.
Mein Vater hörte erst mit 65 Jahren auf zu arbeiten. Und das, obwohl seine Tätigkeit durchaus vergleichbar war mit der von ÖBB -Mitarbeitern beim Verschieben von Zügen. Als selbständiger Spengler mit einem Mitarbeiter musste sich mein Vater bei Wind und Wetter im Freien aufhalten, oft unter gefährlichen Umständen. Er nahm sich jedes Jahr nur eine Woche Urlaub und arbeitete auch am Samstag. Seine Wochenarbeitszeit lag bei 45 bis fünfzig Stunden. Einmal fiel er vom Dach eines Hauses und wurde schwer verletzt. Für ihn wäre es undenkbar gewesen, so wie ÖBB -Mitarbeiter mit fünfzig in Pension zu gehen.
Mit Anfang fünfzig in Pension
Gebhard Pocher* erzählt, wie es war, als er nach dem Studium Ende der 1970er Jahre bei den ÖBB zu arbeiten anfing. Er war fünfundzwanzig. Schon beim Einstellungsgespräch wurde ihm vorgerechnet, dass er mit Anfang fünfzig in Pension gehen kann. Und dass er 83 Prozent seines letzten Gehalts erhalten wird.
Genau das sei für die meisten ÖBB -Mitarbeiter der Anreiz gewesen, zur Eisenbahn zu gehen, sagt Pocher. Man verdiente am Anfang nur wenig, arbeitete aber nur kurze Zeit und konnte mit einer guten Pension den Ruhestand genießen. Als Beamter hatte man außerdem das Privileg, auch in der Frühpension unbegrenzt dazuverdienen zu können – ohne Abschläge. Wer schlau war, begann zu pfuschen.
Der Öffentlichkeit wurden solche Privilegien mit dem Argument verkauft, Lokführer und Verschieber müssten so schwer arbeiten, dass sie bereits mit fünfzig körperlich kaputt und ausgebrannt seien. Das sei ein vorgeschobenes Märchen gewesen, sagt Pocher, denn die Arbeit war längst nicht mehr so schwer wie in den Frühphasen der Eisenbahn. Außerdem gab es bei den ÖBB ja nicht nur Lokführer und Verschieber, und die Lebenserwartung war ganz allgemein sehr viel höher als früher. Mit fünfzig, sagt Pocher, sei niemand so ausgebrannt, dass er nicht mehr arbeiten könne.
Am Anfang hat er sich oft überlegt, die ÖBB zu verlassen. Ihn störte vor allem die negative Einstellung zur Leistung. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem er dadurch viel Geld verloren hätte. Er erinnert sich noch gut an einen Fahrdienstleiter-Kurs mit jungen Kollegen. Einige träumten schon mit zwanzig von der Pension und waren tot, noch bevor sie angefangen hatten zu leben. Der ersehnte Eisenbahner-Himmel war die Pension.
Während einer Diskussion mit diesen Kollegen sagte er: »Dieses System kann nicht lange funktionieren! Wer soll das bezahlen?« Man lachte ihn aus.
Eisenbahner-Himmel erster und zweiter Klasse
Wer vor 1995 bei den ÖBB zu arbeiten anfing, konnte einen Eisenbahner-Himmel erster Klasse erwarten. Das bedeutete: Beamter zu sein mit Privilegien wie Kündigungsschutz, einer Frühpension ohne Abschlagszahlung, einem Sondergeschenk in Form einer erhöhten Rente, die auf der Basis eines fiktiv erhöhten Gehalts berechnet wurde, und einer nach oben unbegrenzten Pension. 2009 gab es bei den ÖBB 28.051 Beschäftigte und 72.079 Pensionisten nach dem Beamtenrecht, mit einer durchschnittlichen Pensionshöhe von 28.700 Euro. Diese Zahl umfasst auch die niedrigen Witwen- und Waisenrenten.
Für die nach 1995 eintretenden Beschäftigten der ÖBB gab es nur noch Plätze im Eisenbahner-Himmel zweiter Klasse. Das bedeutete eine
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