Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
wartete auf eine Lücke im Verkehr und rannte im Laufschritt zum Fisherman’s Catch hinüber. Als ich die Tür aufstieß und hineinging, klingelte ein Glöckchen. Die Kellnerin sah auf.
»Hallo«, sagte sie. »Bin gleich bei Ihnen.«
»Hat keine Eile.«
Nachdem sie den Tisch plötzlich so energisch fertig gewienert hatte, dass ich fürchtete, sie wollte ihn durch den Boden rammen, sah ich mich um. An den Wänden hingen Fotos, zumeist Sepiadrucke von Whitkirk »von anno dazumal«. Auf einigen standen Fischer an ihren Booten, deren Bärte vor dem beigen Hintergrund fast unnatürlich hell erschienen. Auf anderen waren die Straßen selber zu sehen, das vertraute Pflaster, über dem hier altertümliche Verkehrsschilder aus Holz angebracht waren. Vor den Geschäften posierten stolz stattliche Paare, die mit ernster Miene in die Kamera starrten. Ich blickte die Wände entlang, bis ich ein Foto fand, das mich interessierte; ich ging hinüber, um es mir näher anzusehen.
Es war eine Farbaufnahme von der Uferregion. Dicht vor der Kamera stand eine Straßenbahn. Dahinter erstreckten sich die Oberleitungen und Masten die ganze Straße entlang. Das Bild war nicht so alt wie die anderen Fotos, doch mit der Zeit verblasst, so dass es beinahe wie ein Schwarzweißfoto erschien, auf das jemand ein wenig Wasserfarbe getupft hatte.
»Können Sie sich an die Straßenbahn erinnern?«, fragte ich.
»Wie bitte?«
Die Kellnerin hatte sich gerade eine Haarsträhne aus dem Gesicht gepustet und stand, die Hände in die Hüften gestemmt, vor mir.
Ich deutete mit dem Kopf auf das Bild. »Die Straßenbahn hier auf dem Foto. Mir ist aufgefallen, dass es die nicht mehr gibt. Wissen Sie, wann sie die abgeschafft haben?«
»Hmmh.« Sie überlegte. »Ehrlich gesagt nicht. Vielleicht vor zehn Jahren? Vielleicht auch schon früher. War damals jedenfalls eine große Sache zwischen den Anwohnern und der Stadtverwaltung. Ich kann nachsehen, wenn Sie wollen.«
»Nein, nicht nötig. Nicht so wichtig.«
»Was kann ich Ihnen bringen?«
»Fürs Erste nur einen Kaffee.«
Sie salutierte zum Spaß. »Schon unterwegs.«
Ich setzte mich an den nächstbesten Tisch. Er war einigermaßen sauber, auch wenn ihre Anstrengungen die älteren Flecken nicht entfernen konnten, die in die Oberfläche eingesickert waren. Es standen ein Salz-Essig-und-Öl-Ständer, eine Flasche Ketchup und eine Karte mit großen Fotos von frittiertem Fisch darauf. Das Café erinnerte mich eher an eine Pommesbude, zu der mich meine Eltern als Kind mitgenommen hatten. Es war eine Erinnerung an Behaglichkeit und Geborgenheit: Wärme, Gebrutzel und Essensgeruch.
Die Kellnerin verschwand durch eine Schwingtür in die Küche. Eine Kaffeemaschine keuchte und hustete. Ich schlug Die schwarze Blume auf und überflog die ersten paar Seiten, bis ich die Stelle fand, die ich suchte.
… als drehte sich die Welt im Schlaf auf die andere Seite und erwachte plötzlich mit einer Idee, die so wichtig ist, so dringend mitgeteilt werden muss, dass sie reale Gestalt annimmt. Und jetzt steht diese Idee da und wartet darauf, entdeckt zu werden.
Wartet darauf, dass sich jemand ihrer annimmt.
Im Buch hatte Sullivan das kleine Mädchen entdeckt.
Jahre später hatte sich Wiseman in einem Hotel ein Stück die Straße weiter mit einer erwachsenen Frau – ein wenig entrückt und geisterhaft und schön – fotografieren lassen. Ein Bild, auf dem er zugleich schuldbewusst und freudig erregt schien, mein Vater dagegen eher unbehaglich und nervös. Wiseman: ein Mann, dem es egal war, woher er seine Ideen bezog, für den nur zählte, was er als Künstler daraus machte. Mein Vater: ein Mann, der daran glaubte, dass die Geschichten eines Menschen nahezu heilig waren, dass sie ihm und sonst niemandem gehörten.
Das war sie. Dessen war ich mir jetzt sicher: So wie »Sullivan« sie als Kind gefunden hatte, waren ihr Wiseman und mein Vater als Erwachsener begegnet. Sie hatten sich ihre Geschichte angehört, und Wiseman hatte sie für sich in Anspruch genommen.
Und sein ganzes verfluchtes Buch darauf aufgebaut.
Ich sah auf die Uhr. Mit Barbara Phillips war ich hier erst in einer halben Stunde verabredet. Ich blätterte das Buch bis zu der Stelle durch, bis zu der ich gekommen war, und las weiter, indem ich die Geschichte jetzt einfach für bare Münze nahm.
Und so wusste ich genau, wessen sterbliche Überreste sie am Viadukt gefunden hatten.
Auszug aus Die schwarze Blume von Robert Wiseman
Sullivan hat
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