Schwarze Engel
aus der scheinbar gut gesicherten Villa ihrer Eltern in Brentwood entführt worden war. Es war die Sorte Verbrechen, die der ganzen Stadt eine erschreckend deutliche Botschaft übermittelte: Niemand ist sicher.
Als wäre die Ermordung des Mädchens nicht ohnehin schon furchtbar genug, wurde sie durch die Medien noch ungeheuer aufgebauscht. Zunächst lag das an der Person des Opfers und seiner Herkunft. Sie war die Stieftochter von Sam Kincaid, Erbe einer Familiendynastie, der im Los Angeles County mehr Autohäuser gehörten, als man an den Händen abzählen konnte. Sam war der Sohn Jackson Kincaids, des ursprünglichen ›Autozaren‹, der die Ford-Vertragswerkstatt, die ihm sein Vater nach dem Zweiten Weltkrieg hinterließ, zu einem riesigen Unternehmen ausgebaut hatte. Wie später auch Howard Elias hatte Jack Kincaid früh die Vorteile der lokalen Fernsehwerbung erkannt und war in den 60er Jahren fester Bestandteil der spätabendlichen Werbesendungen geworden. Auf dem Bildschirm strahlte Kincaid einen volksnahen Charme aus, der etwas Aufrichtiges und Kumpelhaftes hatte. Er wirkte so seriös und vertrauenswürdig wie Johnny Carson und war in den Wohn- und Schlafzimmern von Los Angeles auch genauso oft zu sehen. Wenn Los Angeles als ›Stadt des Automobils‹ betrachtet wurde, galt Jack Kincaid mit Sicherheit als ihr heimlicher Bürgermeister.
Solange er nicht vor der Kamera stand, war der Autozar ein kühl kalkulierender Geschäftsmann, der beide Parteien finanziell unterstützte und der Konkurrenz gnadenlos das Wasser abgrub oder sie zumindest aus der Umgebung seiner Vertragswerkstätten vertrieb. Sein Imperium vergrößerte sich rasch, und bald waren seine Autohäuser in ganz Südkalifornien zu finden. In den 80er Jahren ging die Ära Jack Kincaid zu Ende, und der Titel Autozar ging auf seinen Sohn Sam über. Aber der alte Herr hatte, wenn auch meistens im Hintergrund, die Zügel weiterhin fest in der Hand. Besonders deutlich zeigte sich das in dem Moment, als Stacey Kincaid entführt wurde und der alte Jack wieder auf den Bildschirmen auftauchte, diesmal allerdings, um in Nachrichtensendungen aufzutreten und eine Million Dollar Belohnung auf die unversehrte Rückgabe seiner Enkelin auszusetzen. Es war eine weitere groteske Episode in Los Angeles’ Geschichte des Verbrechens. Der alte Mann aus dem Fernsehen, mit dem alle groß geworden waren, meldete sich plötzlich wieder auf den Bildschirmen zurück und bettelte unter Tränen um das Leben seiner Enkelin.
Es half alles nichts. Die Belohnung und die Tränen des alten Mannes wurden bedeutungslos, als die Leiche des Mädchens in der Nähe von Michael Harris’ Wohnung auf einem unbebauten Grundstück entdeckt wurde.
Als der Fall zur Verhandlung kam, waren die einzigen Belastungsbeweise, die der Anklage vorlagen, Harris’ Fingerabdrücke, die in dem Schlafzimmer gefunden worden waren, aus dem das Mädchen entführt worden war, und der Umstand, daß die Leiche in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung aufgetaucht war. Der Fall sorgte für einiges Aufsehen; sowohl in der Gerichtssendung Court TV wie in den lokalen Nachrichtensendungen wurde täglich live darüber berichtet. Harris’ Anwalt John Penny, der es ebenso geschickt wie Elias verstand, Geschworene zu manipulieren, baute seine Verteidigung darauf auf, daß die Nähe der Leichenfundstelle zur Wohnung des Angeklagten rein zufällig sei und die Fingerabdrücke – die auf einem der Schulbücher des Mädchens gefunden worden waren – dem Angeklagten vom LAPD untergeschoben worden seien.
Aller Einfluß und alles Geld, das die Kincaids über Generationen hinweg angehäuft hatten, kam gegen die polizeifeindliche Stimmung und die unterschwellige Rassenproblematik des Falls nicht an. Harris war schwarz, die Kincaids, die Polizei und die Anklage waren Weiße. Vollends irreparablen Schaden erlitt die Prozeßführung gegen Harris schließlich, als Harris’ Verteidiger Jack Kincaid im Zuge seiner Vernehmung eine Bemerkung entlockte, die viele als rassistisch auffaßten. Nachdem Kincaid bei der Verhandlung eine detaillierte Aufstellung seiner zahlreichen Autohäuser gegeben hatte und von Penny gefragt wurde, warum er keine Niederlassung in South Central Los Angeles habe, erklärte Kincaid, bevor der Staatsanwalt wegen der Unerheblichkeit der Frage Einspruch erheben konnte, ohne Zögern, für seine Betriebe kämen keine Standorte in Frage, deren Bewohnerschaft eine ausgeprägte Neigung zu Krawallen zeige. Dem fügte er
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