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Schwarze Fluten - Roman

Schwarze Fluten - Roman

Titel: Schwarze Fluten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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abgestoßen und angezogen. Mit jedem Moment wuchs seine Angst, auch wenn er nicht wusste, wovor er sich fürchtete.
    Dann hatte er den Eindruck, dass Chiangs Blick sich von dem Geschehen auf dem Bett abgewandt und auf ihn gerichtet hatte. Als der Mann lächelte, war sich der Junge sicher, dass er gesehen worden war. Sofort drehte er sich um und floh.
    Als er im Obergeschoss angelangt war und in dem Zimmer stand, in dem seine Mutter schlief, hatte die merkwürdige Faszination der Szene im Gästeflügel sich in blankes Entsetzen verwandelt. Obwohl Sondra nicht verängstigt ausgesehen hatte, dachte der Junge, man habe womöglich vor, sie zu töten.
    Seine Mutter aufzuwecken war nicht einfach. Später erfuhr er, dass sein Vater ihr nach dem Abendessen ein Betäubungsmittel eingeflößt hatte, das noch Stunden später nachwirkte. Als es ihm gelungen war, sie wachzurütteln, berichtete er ihr in kindlichen Worten, was er gesehen hatte.
    Madra erkannte, dass ihre Benommenheit auf eine Droge zurückzuführen war, und beschloss, rasch zu fliehen. Wenn ihr Mann ihr so etwas antun konnte – und wenn er das tun konnte, was der Junge beobachtet hatte – , dann gab es womöglich kein Verbrechen, dessen er nicht fähig war. In den seit ihrer Hochzeit vergangenen Jahren hatte sie eine beunruhigende Wildheit an ihm gesehen, die er zu verbergen versuchte. Ohne zu zögern griff sie nur nach dem Mantel des Jungen und eilte mit ihm die Treppe hinunter.
    Als die beiden das Haus durch die Vordertür verließen und ihr Wagen nicht mehr davor stand, wusste Madra nicht, wo sie danach suchen sollte, da sie keine Garagen gesehen hatte. Dann wurde ihr klar, dass es womöglich gar nichts nützte, wenn sie den Wagen fand, weil man den Schlüssel abgezogen hatte.
    Wo die Ställe waren, wusste sie jedoch, und dort stand Magic, ihr geliebtes Pferd. Für das brauchte man keinen Schlüssel.
    Obwohl der junge Timothy inzwischen vor Furcht zitterte und wacklig auf den Beinen war, und obwohl seine Mutter sich anstrengen musste, um klar denken zu können, war den beiden doch bewusst, dass Cloyce inzwischen wahrscheinlich nach ihnen suchte. Wie der Junge später erfuhr, hatte Chiang Pu-yi unter Drogen gestanden und ihn zwar an der Schwelle stehen sehen, aber eine Weile nicht erkannt, was das bedeutete. Stattdessen war Chiang in eine kranke Fantasie versunken, in der er sich ausmalte, welche Rolle ein Neunjähriger wohl bei der Szene auf dem Bett spielen konnte.
    Unter dem Vollmond flohen Mutter und Sohn durch die Nacht zu den Ställen. Als geübte Reiterin brauchte Madra keinen Sattel. Ohne sich mit dem Zaumzeug abzugeben stieg sie auf einen Aufsitzblock und schwang sich auf den Rücken des Pferdes. Dann zog sie den Jungen hoch, setzte ihn vor sich und befahl ihm, sich an der Mähne festzuklammern. Mit der rechten Hand hielt sie sich selbst daran fest, den linken Arm schlang sie um ihren Sohn, und so machten sie sich im Trab auf den Weg zum Tor, wobei sie genügend Abstand vom Haus hielten. Zu galoppieren wagte Madra nicht, damit der Junge nicht hinunterfiel.
    Das Pförtnerhaus war nachts nicht besetzt, weil keine Besucher zu erwarten waren. Madra hatte vor, das Tor selbst zu öffnen, in die Stadt zu reiten und jemanden anzurufen, dem sie vertraute. Vielleicht würde sie sich sogar an die Polizei wenden, um zu berichten, dass ihr Mann sie unter Drogen gesetzt und sich schlüpfrigen Aktivitäten hingegeben hatte, derer ihr Kind Zeuge geworden war.
    Das Blatt meiner Säge zersprang, und ich wurde aus dem Film gerissen, der bei den Worten des Jungen in mir abgelaufen war.
    Während ich ein Ersatzblatt aus der Packung zog, die ich mitgebracht hatte, fuhr Timothy fort: »Er stand nackt in der Einfahrt, im Mondlicht bleich wie ein Gespenst. Wir haben ihn einen kleinen Moment zu spät erkannt. In den Händen hielt er sein Gewehr. Wie er meine Mutter getötet hat, habe ich da nicht gesehen, weil er zuerst mich erschossen hat.«

41
    Ein paar Seiten zuvor habe ich das Foto aus dem Jahrbuch meiner Highschool erwähnt, auf dem ich töricht und ahnungslos aussehe. Bei Timothys letzten Worten spürte ich, wie meine Gesichtszüge denselben, mir nur allzu vertrauten Ausdruck annahmen.
    Als ich im Schrank gestanden und belauscht hatte, wie Mrs. Tameed mit dem Jungen sprach, hatte sie ihn daran erinnert, dass er anders als die anderen Bewohner von Roseland war. Sie hatte ihn als »toten Jungen« bezeichnet, was ich für eine Drohung gehalten hatte. Nie hätte ich mir

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