Schwarze Fluten - Roman
ablenken. Es war jedoch auch möglich, dass sie keine süßen Sachen mochten.
Victoria hätte mich offenkundig am liebsten wieder angespuckt, doch ihre Wut richtete sich nun gegen mein Zögern, und in ihrem verzerrten Gesicht sah ich Entsetzen, nicht Verschlagenheit.
Ich wandte mich lange genug von ihr ab, um den Schlüssel ins Loch zu stecken und so zu drehen, wie sie mich angewiesen hatte. Sobald ich ihn herausgezogen hatte, begann der Boden unter meinen Füßen sich zu bewegen.
Erschrocken richtete ich die Beretta auf Victorias Gesicht.
Nach kurzer Verwirrung wurde mir jedoch klar, dass sich unter der Speisekammer ein Schacht befinden musste. In diesem versank der Boden nun glatt und lautlos.
Nachdem ich den Schlüssel eingesteckt hatte, ergriff ich die Pistole mit beiden Händen.
Während die Wände des Schachts sichtbar wurden, blieben die mit Dosen und Lebensmittelpackungen beladenen Regale über uns und entfernten sich immer weiter.
Je tiefer wir kamen, desto weniger erreichte uns das Licht der Lampe an der Decke. So irrational es war, ich hatte Angst, in eine solche Tiefe getragen zu werden, dass die Lampe nur noch ein weit entfernter Punkt war. Dann sahen Victoria und ich uns nicht mehr und standen uns in tiefer Dunkelheit gegenüber, beide bewaffnet, aber zumindest einer nicht an Grenzen und an Regeln glaubend.
Als wir etwa sechs Meter weit gesunken waren, tauchte in der Wand rechts von mir eine Öffnung auf, direkt hinter Victoria und dem Jungen. Wenige Sekunden später kamen wir zum Halt, und ich sah, dass die Öffnung in einen gut zwei Meter hohen und fast ebenso breiten Gang führte. Er war mit Kupfer ausgekleidet wie der Tunnel, der das Mausoleum mit dem Haus verband. In gleichmäßigen Abständen angebrachte Neonröhren schufen Bänder aus Schatten und Licht. Auch hier waren in die Wände Glasröhren eingebettet, durch die sich goldene Lichtpulse bewegten, die sich gleichzeitig zu entfernen und zu nähern schienen.
Sechs Meter über uns, am oberen Rand des Schachts, ging die Tür zur Speisekammer auf. Ein Biest steckte den Kopf hindurch und spähte nach unten. Es kreischte, als es uns sah, wollte jedoch offenkundig keinen so tiefen Sprung wagen.
Victoria zog Timothy mit sich in den Gang. Als ich ihr folgte, begann der Boden der Speisekammer sich wieder nach oben zu bewegen, wahrscheinlich hydraulisch, aber ohne das übliche Zischen und Summen. Bald war er aus meinem Blick verschwunden, und das Kreischen des Biests hoch oben war nur noch gedämpft zu hören.
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Die Biester in der Küche wussten nun zwar, dass die Speisekammer eine Art Aufzug in die Tiefe war, aber sie hatten keinen Schlüssel, um ihn in Gang zu setzen. Wahrscheinlich waren wir also vor ihnen sicher.
Victoria Mors und ich waren jedoch voreinander keineswegs sicher, während wir in dem mit Kupfer ausgekleideten Gang standen, und Timothy war nicht sicher vor Victoria.
Sie drückte dem Jungen die Mündung ihrer Pistole so heftig an den Hals, dass der Stahl sich tief in die Haut bohrte. Dabei erklärte sie mir, wie sehr sie meine verfluchte Visage hasste und wie sehr sie sich wünschte, mir das verfluchte Hirn aus meinem verfluchten Schädel zu blasen. Gut möglich, dass sie statt verflucht einen ähnlich klingenden, aber nicht druckreifen Ausdruck verwendete.
Für eine Frau, die schon mehr als ein Jahrhundert lebte, besaß sie jedenfalls einen erbärmlich beschränkten Wortschatz.
In potenziell tödlichen Auseinandersetzungen, in denen ich keinen einfachen Ausweg sehe, neige ich dazu, weniger zu denken als zu reden. Das hat gute Gründe. Wenn ich alles sage, was mir in den Sinn kommt, ohne Berechnung und ohne jeden Filter, rede ich oft eine Lösung herbei, die ich nicht erkenne, bevor sie da ist. Damit will ich allerdings nicht sagen, ich würde mit dieser Methode den Überlauf eines gewaltigen Stausees voll unterbewusster Weisheit öffnen. Glaubt mir, ein solcher Stausee existiert nicht.
Vielleicht liegt es einfach daran, dass am Anfang aller Dinge das Wort war und dass Wörter die Wurzeln von allem sind, was unsere Sinne wahrnehmen. Wir können uns nichts vorstellen, können uns von nichts ein Bild im Geist machen, bis wir ein Wort dafür haben. Wenn ich mich also dem freien Strom der Wörter hingebe, die mir ohne jede Planung von der Zunge gehen, zapfe ich die urtümliche kreative Kraft im Herzen des Kosmos an.
Na gut, vielleicht bin ich auch bloß ein begnadeter Dampfplauderer.
Während Victoria mir klarmachte, wie
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