Schwarze Fluten - Roman
hören.
»Du musst dich verstecken«, wiederholte der Junge. »Wenn sie herausbekommen, dass du mich gesehen hast, bringen sie dich um.«
16
Paulie Sempiterno hatte gesagt, er wolle mir eine Kugel in den Kopf schießen, weil er mich nicht mochte. Da ich oft genug in den Spiegel geschaut hatte, begriff ich dieses Motiv durchaus. Wieso ich jedoch die Todesstrafe verdiente, nur weil ich den Jungen hier oben gesehen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich glaubte ihm seine düstere Warnung allerdings sofort, so merkwürdig er sich auch verhielt.
Als ich durch die Verbindungstür ins Schlafzimmer floh, sah ich, dass das Bett gemacht war, weshalb Mrs. Tameed womöglich nicht bis hierher vordringen würde. Dann bemerkte ich jedoch das Tablett mit den Frühstücksresten des Jungen. Es stand auf einem Tischchen, auf dem außerdem ein Stapel Bücher lag.
Hinter einer weiteren Tür verbarg sich ein Badezimmer. Die Fenster solcher Räume waren normalerweise zu klein, um als Fluchtweg dienen zu können, weshalb mir dort nur der Ablauf der Badewanne geblieben wäre.
Als ich in den begehbaren Kleiderschrank spähte, stellte ich fest, dass dieser keine größere Sicherheit bot als das Bad. Im anderen Zimmer hörte ich bereits, wie Mrs. Tameed den Jungen fragte, ob er mit dem Frühstück fertig sei. Deshalb schlüpfte ich dennoch in dieses letzte mögliche Versteck. Die Tür ließ ich einen Spaltbreit offen.
In Rebecca von Daphne du Maurier und dem gleichnamigen Film von Hitchcock kommt eine Haushälterin namens Mrs. Danvers vor, die wie ein wandelndes Hackebeil in einem langen schwarzen Kleid aussieht. Schon wenn sie das erste Mal auftritt, weiß man, dass sie irgendwann jemanden abschlachten oder das Haus in Brand stecken wird.
Mrs. Tameed hingegen entsprach nicht diesem Typ der mürrischen, verschlagenen Hausangestellten. Sie war gut einen Meter achtzig groß, blond, kräftig, aber nicht dick, und hatte Hände, die stark genug aussahen, um Kobe-Rinder zu massieren, nachdem diese ihre tägliche Portion Hafer und Bier erhalten hatten. Außerdem stellte sie ein gewinnendes Lächeln und eines jener skandinavischen Gesichter zur Schau, die aussehen, als wären sie jedes verlogenen Ausdrucks unfähig. Deshalb hätte man sie nicht für eine Frau gehalten, die schreckliche Geheimnisse zu verbergen hatte, sondern eher für eine Amazone, die mit Dolch und Breitschwert umzugehen und beides mit tödlicher Wirkung zu verwenden wusste.
Als sie das Schlafzimmer betrat, ging sie nicht einfach zum Tisch, um das Frühstückstablett zu holen, sie schritt dorthin. Die Schultern hatte sie zurückgezogen, und den Kopf hielt sie hoch erhoben, als wäre selbst diese banale Aufgabe von größter Bedeutung.
Hinter ihr tauchte der Junge in der Tür auf. »Ich will mit ihm darüber sprechen, dass ich mehr Freiheiten bekomme«, sagte er.
»Er hat jetzt aber keine Lust, mit dir zu sprechen«, sagte Mrs. Tameed. Ihr Stimme war kühl, zwar nicht herablassend, aber doch fest und ohne jede Spur Beflissenheit. Offenbar stand der Junge in der sozialen Rangordnung von Roseland weit unter ihr.
Dessen wohlklingende Chorknabenstimme war viele Jahre jünger als die Worte, die sie sagte: »Er hat eine Verpflichtung, eine Verantwortung. Er meint zwar, für ihn würden keine Regeln gelten, aber niemand steht über allem.«
Das Tablett in der Hand, erwiderte die Haushälterin: »Überleg doch mal, was du da sagst, dann weißt du schon, wieso er nicht mit dir sprechen will.«
»Er hat mich hierher gebracht. Wenn er schon nicht mir sprechen will, sollte er mich wenigstens zurückbringen.«
»Du weißt, was es bedeuten würde, dich zurückzubringen. Das willst du selbst nicht.«
»Vielleicht doch. Wieso nicht?«
»Wenn du dir Hoffnung machst, mit ihm zu sprechen, musst du es anders anstellen. Er wird dir nie im Leben glauben, dass du zurückgebracht werden willst.«
Sie ging auf den Jungen zu, er wich zurück, und beide verschwanden im anderen Raum.
Behutsam drückte ich die Schranktür auf und hörte Mrs. Tameed gerade sagen: »Denk dran, die Vorhänge geschlossen zu lassen, und bleib von den Fenstern weg!«
»Was würde es denn ausmachen, wenn der Besucher mich sehen würde?«
»Vielleicht überhaupt nichts, aber wir dürfen kein Risiko eingehen«, sagte Mrs. Tameed. »Du hast vorher von Verantwortung gesprochen. Wenn wir ihn und die Frau töten müssten, dann wärst du dafür verantwortlich.«
»Und warum sollte mich das kümmern?«, fragte der
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