Schwarze Fluten - Roman
Zügen glaubte ich eine Ähnlichkeit mit der Frau auf dem schwarzen Hengst zu erkennen, war mir jedoch nicht sicher.
Es ist jemand hier, der in großer Gefahr ist und dich dringend braucht.
Das war sie wohl, die Person, von der Annamaria gesprochen hatte, und es war wohl der Sohn der Reiterin. In welcher Gefahr der Junge war, wusste ich allerdings nicht. Oder was ich für ihn tun konnte.
Seine nach oben gewandte Hand zuckte, und der Absatz seines linken Schuhs schlug zweimal an den Fuß des Sessels, als hätte ein Arzt auf die Kniescheibe geklopft, um die Reflexe zu testen.
»Kannst du mich hören?«, fragte ich.
Als er nicht antwortete, setzte ich mich auf die Ottomane vor seinem Sessel. Nachdem ich ihn eine Weile beobachtet hatte, griff ich nach seinem rechten Handgelenk, um den Puls zu fühlen.
Obwohl er ruhig dasaß und langsam atmete, jagte sein Herz: hundertzehn Schläge pro Minute. Der Rhythmus war jedoch überhaupt nicht unregelmäßig, und der Junge schien nicht unter großen Qualen zu leiden.
Seine Haut jedoch war so kalt, dass ich seine rechte Hand in meine Hände nahm, um sie zu wärmen.
Wieder reagierte er zuerst nicht, doch dann umklammerten seine Finger plötzlich meine Hand und drückten fest zu. Ein schwaches Keuchen kam aus seinem Mund, und er erzitterte.
Wie sich herausstellte, litt er doch nicht am grauen Star; seine Augen waren nur weiter nach oben gerollt gewesen, als ich es für möglich gehalten hätte. Nun wurde die Iris sichtbar. Rötlich braun und klar.
Am Anfang schien er durch mich hindurch auf etwas zu blicken, was sich weit jenseits des Zimmers befand. Dann veränderte sich sein Fokus allmählich, und er sah mich an, überhaupt nicht überrascht, so als würden wir uns schon kennen oder als könnte ihn trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit nichts mehr erstaunen oder verblüffen.
Der Griff seiner Finger löste sich, und er entzog mir seine Hand. In seine bleiche Haut kam langsam Farbe, die aussah wie der Widerschein von Flammen, obwohl der offene Kamin neben ihm dunkel und kalt war.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Er blinzelte ein paarmal und sah sich dann im Zimmer um, als müsste er sich daran erinnern, wo er sich befand.
»Mein Name ist Odd Thomas. Ich wohne momentan im Gästeturm.«
Er sah mich wieder an. Sein Blick war beunruhigend direkt, vor allem für ein Kind. »Ich weiß«, sagte er.
»Und wie heißt du?«
Statt mir zu antworten, sagte er: »Sie haben mir gesagt, ich muss in meinem Zimmer bleiben, solange du hier bist.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Alle.«
»Weshalb?«
Er rutschte von seinem Sessel, worauf auch ich aufstand. Dann trat er zum Kamin, blieb davor stehen und starrte durch den Feuerschirm auf die Holzscheite, die auf einem Messingständer aufgestapelt waren.
Da ich den Eindruck hatte, dass er womöglich nichts mehr sagte, wenn ich nicht in ihn drang, fragte ich noch einmal: »Wie heißt du?«
»Das Gesicht schmilzt ihnen vom Schädel. Und ihr Schädel wird schwarz, wenn die Luft ihn berührt. Auch die Knochen werden alle schwarz. Dann weht das Schwarz davon wie Ruß, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.«
Die Stimme war hoch wie die eines Kindes, doch ich hatte nur selten, falls überhaupt, ein Kind so ernst sprechen gehört. Mehr noch, in diesen Worten lag ein Ton, der mich erschreckte, eine Traurigkeit, die vielleicht Mutlosigkeit ausdrückte, eine Unfähigkeit zu hoffen, die noch keine Verzweiflung darstellte, aber nur einen Schritt davon entfernt war.
»Zwanzig Mädchen in Schuluniform und Kniestrümpfen, die zur Schule gehen«, fuhr er fort. »Von einer Sekunde auf die andere stehen ihre Kleider in Flammen und auch ihr Haar, und als sie versuchen zu schreien, schlagen ihnen Flammen aus dem Mund.«
Ich trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die schmale Schulter. »Ein Albtraum, ja?«
Er starrte in den kalten Kamin, als würde er dort brennende Schulmädchen statt Holzscheite sehen. »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Aus einem Film, einem Buch?«, fragte ich, weil ich ihn verstehen wollte.
Er sah mich an. Seine Augen schimmerten dunkel. Sie wurden von irgendetwas heimgesucht, so wie Roseland von den Geistern der Frau und ihres Pferdes heimgesucht wurde.
»Du musst dich verstecken«, sagte er.
»Wieso?«
»Es ist gleich neun. Dann kommt sie zurück.«
»Wer denn?«
»Mrs. Tameed. Sie kommt um neun Uhr, um mein Frühstückstablett abzuholen.«
Ich warf einen Blick zur Tür. Im Flur waren Geräusche zu
Weitere Kostenlose Bücher