Schwarze Fluten - Roman
bitte?«
»Ich hab vergessen, sie zu nehmen«, sagte er und verschwand durch die Tür zum Flur.
Am anderen Spülbecken ließ ich kurz Wasser über mein Geschirr laufen und stellte alles in die Geschirrspülmaschine.
Das Essen lag mir schwer im Magen. Ich hatte das Gefühl, meine Henkersmahlzeit hinter mir zu haben.
Es ist jemand hier, der in großer Gefahr ist und dich dringend braucht.
Ich wiederholte im Geist die Worte von Annamaria und hoffte, damit meine magnetische Gabe in Gang zu setzen, wie ich es schon vor meiner letzten Begegnung mit der stummen Reiterin versucht hatte.
Unwillkürlich durchquerte ich die Küche und verließ sie durch eine der beiden Schwingtüren, die ins Anrichtezimmer führten.
Ich kam durch das für Gesellschaften ausgelegte Speisezimmer und einen gemütlichen Salon, der nur einen Bruchteil so groß war wie der eigentliche Salon. Dann ging ich einen holzgetäfelten Flur entlang, an geschlossenen Türen vorbei, ohne den Impuls zu verspüren, sie zu öffnen.
Mehr als einmal hatte die Struktur des Gebäudes mich in den vergangenen Tagen verwirrt, nicht nur wegen der Größe, sondern auch, weil der Architekt scheinbar eine neue Geometrie mit bislang unbekannten Dimensionen erfunden hatte, die meiner Gewohnheit zuwiderlief. Die Räume waren auf eine Art und Weise verbunden, die mich immer wieder überraschte.
Als ich auf einem Weg, den ich nicht erwartet hätte, die Bibliothek erreichte, verblüffte mich zweierlei: die tiefe Stille des großen Hauses und die Abwesenheit jeglichen Personals. Kein Staubsaugergeräusch in irgendeinem fernen Zimmer. Keine Stimmen. Niemand, der die Steinböden moppte, das Mahagoniparkett polierte oder Staub wischte.
Am Vortag hatte ich zum ersten Mal Gebrauch von der Einladung gemacht, mich im Erdgeschoss wie zu Hause zu fühlen. Ich hatte einige Zeit im Kartenzimmer und in dem professionell ausgestatteten Fitnessraum verbracht. Dabei war ich nur auf die Haushälterin – Mrs. Tameed – und eine Angestellte namens Victoria Mors getroffen.
Während ich nun an der Schwelle der Bibliothek stand und mich über die Stille ringsum wunderte, wurde mir klar, dass weder die Haushälterin noch ihre Untergebene mit irgendeiner bestimmten Tätigkeit beschäftigt gewesen waren, als ich auf sie gestoßen war. Sie hatten im Kartenzimmer gestanden, in ein intensives Gespräch vertieft. Als ich mich entschuldigt hatte, sie bei der Arbeit gestört zu haben, und gehen wollte, hatten sie mir versichert, sie seien schon fertig und hätten jetzt anderswo zu tun. Daraufhin waren sie sofort verschwunden, ohne dass ich mir bisher Gedanken darüber gemacht hatte, dass keine der beiden irgendwelche Putzutensilien dabeigehabt hatte, nicht einmal ein Staubtuch.
Ein derart großes Haus mit seinen dekorativen Elementen, offenen Marmorkaminen, reichen architektonischen Details und Räumen voll antiker Möbel hätte Mrs. Tameed und ein halbes Dutzend Hausangestellte eigentlich von morgens bis abends beschäftigt halten müssen. Aber obwohl alles makellos sauber war, hatte ich nur diese beiden Frauen getroffen, und die hatten nicht gearbeitet.
Ich trat über die Schwelle und fand die Bibliothek verlassen vor. An allen Wänden des großen rechteckigen Raums waren Bücherregale angebracht; frei blieben nur einige Fenster, die von schweren Brokatvorhängen verhüllt waren. Ich blieb nicht stehen, um irgendeinen der mehreren tausend Buchrücken zu studieren oder mich in einem Sessel niederzulassen. Geleitet von meinem Magnetismus, ging ich direkt zu der offenen Treppe in der Mitte des Raumes.
Sechs Meter über mir sah ich eine Kassettendecke aus Mahagoni. Darunter verlief am Rand des Raums ein eineinhalb Meter breiter Umgang.
Das Geländer der bronzenen Wendeltreppe stand auf Pfosten, um die sich wunderschöne Ranken mit vergoldeten Blättern wanden. Vielleicht sollte das ein Symbol für den Baum des Wissens sein.
Am oberen Ende der Treppe war diese über eine Brücke mit den beiden längeren Seiten des Umgangs verbunden. Ohne zu zögern, ging ich nach links. Als ich das Ende der Brücke erreicht hatte, wandte ich mich nach rechts.
In der Ecke befand sich eine schräg zwischen die Bücherregale gesetzte Tür mit einem Ziergiebel, der von einer Bronzefackel mit vergoldeter Flamme gekrönt war. Ich trat hindurch und gelangte zu einer Stelle im Obergeschoss, an der zwei Flure aufeinandertrafen.
Die Einladung, alle öffentlichen Räume des Hauses zu benutzen, bezog sich nicht aufs
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