Schwarze Fluten - Roman
Junge. Nun klang er trotzig und mehr wie ein Kind als vorher.
»Kümmern sollte dich das nicht. Du solltest darüber hinweg sein, dich um solche Leute zu kümmern. Aber vielleicht bist du das nicht. Schließlich bist du … anders.«
»Wenn es so riskant ist, die beiden hier zu haben, wieso hat er sie dann eigentlich eingeladen?«, fragte der Junge. Nun war endgültig klar, dass er von Noah Wolflaw sprach.
»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Mrs. Tameed. »Das versteht keiner von uns. Er sagt, die Frau fasziniert ihn.«
»Was will er mit ihr anfangen?«, fragte der Junge. In seinem Tonfall lag eine laszive Andeutung, für die er viel zu jung war.
»Ich weiß nicht, ob er überhaupt was mit ihr anfangen will«, sagte Mrs. Tameed. »Aber er kann mit dieser Zicke alles machen, was ihm in den Sinn kommt. Genau so, wie ich und alle anderen von uns das können. Dich geht das einen feuchten Kehricht an, du Rotzlöffel!«
»Warst du eigentlich schon immer so eine fiese Schlange?«, bohrte der Junge weiter. »Oder bist du erst mit der Zeit so geworden?«
»Hör mal, du kleiner Dreckskerl, wenn du weiter so mit mir redest, binde ich dich irgendwann mal nachts an einen Baum und lasse die Biester mit dir machen, was sie wollen.«
Diese Drohung brachte den Jungen zum Schweigen, denn bei den Biestern handelte es sich offenbar um die Kreaturen, die Dunkelheit mit sich brachten, wohin sie auch gingen.
Als Schlange bezeichnet zu werden brachte die Haushälterin offenbar dazu, noch ein wenig Gift zu verspritzen, bevor sie ging: »Vielleicht werden die Biester dich dann ein paarmal rannehmen, bevor sie dir das Gesicht abnagen.«
Hätte es einen Mr. Tameed gegeben und wäre der vom selben Schlag wie seine Frau gewesen, so wäre das Ehebett wahrscheinlich so von Liebe erfüllt gewesen wie ein Hundekampfring.
Mrs. Tameed schoss noch einen letzten Giftpfeil ab, der geheimnisvoller war als ihre früheren Beleidigungen: »Du bist bloß ein toter Junge. Du bist keiner von uns, und du wirst auch nie zu uns gehören, du toter Junge .«
Die Tür zum Flur fiel knallend zu, aber ich verließ den Schrank nicht augenblicklich. Ich wollte warten, bis mir der Junge mitteilte, dass Mrs. Tameed eindeutig verschwunden war.
Erst als er sich auch nach einigen Minuten nicht gezeigt hatte, kehrte ich vorsichtig in sein Wohnzimmer zurück.
Trotz der Anordnung der Haushälterin hatte er an einem Fenster die Vorhänge aufgezogen und blickte hinaus auf den Südteil des Gartens, zu dem die gestuften, zum Mausoleum führenden Kaskaden gehörten. Auf mein Erscheinen reagierte er nicht. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, das nun so bleich war wie in dem Augenblick, als ich ihn in einer Art Trance vorgefunden hatte.
» Toter Junge – was hat sie damit gemeint?«
Er gab keine Antwort.
»War das eine Drohung? Haben sie vor, dich umzubringen?«
»Nein. Es ist einfach so, wie es ist. Es bedeutet nichts.«
»Das glaube ich aber schon. Und ich glaube, auch du weißt, dass es was bedeutet. Ich bin hier, um dir zu helfen. Wie heißt du?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich kann dir helfen.«
»Das kann niemand.«
»Du willst von hier fort«, sagte ich.
Er starrte nur auf das Mausoleum in der Ferne.
»Ich bringe dich raus aus Roseland, zur Polizei.«
»Unmöglich.«
»Über die Mauer. Das ist ganz leicht.«
Er wandte mir den Kopf zu und sah mich an. In seinen melancholischen Augen lag unendlicher Kummer. Als ich seinen Blick erwiderte, spürte ich, wie mir das Herz schwer wurde.
»Die wissen immer genau, wo ich bin«, sagte der Junge und zog den linken Ärmel seines Pullovers zurück. Am Arm trug er etwas, das zu sehr nach einer Fessel aussah, um eine Armbanduhr zu sein.
Als ich zu ihm trat und das Ding genauer betrachtete, sah ich, dass es tatsächlich unlösbar am Handgelenk befestigt war. Es hatte ein Schloss, das aussah wie bei Handschellen, und es war deutlich größer als eine Armbanduhr. Da das Handgelenk so schlank war, sah die stählerne Fessel regelrecht grausam aus, obwohl die Haut unversehrt war.
»Das ist eine elektronische Fessel«, sagte er. »Wenn ich dieses Apartment verlasse, werden sie sofort durch einen Ton gewarnt, der im ganzen Haus zu hören ist. Und im Pförtnerhaus. Und in den Walkie-Talkies, die alle Wachmänner dabeihaben. Wenn ich das Obergeschoss verlasse, hört man einen anderen Ton, und wenn ich das Haus verlasse, wieder einen anderen.«
»Wieso hält man dich denn hier gefangen?«
Statt etwas zu
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