Schwarze Heimkehr
ihm wie eine leere Phrase vor. Rachel könnte in ein oder zwei Wochen tot sein. »Gib die Hoffnung nicht auf. Ich werde alle meine Beziehungen in Anspruch nehmen und nichts unversucht lassen, um ihr eine Niere zu besorgen.«
Sie biß sich. auf die Unterlippe. »Mein Gott, Lew, glaubst du, daß das klappt? Es wäre ein Wunder.«
»Halt durch, Matty. Du mußt nur durchhalten.«
Die Tränen rannen ihr über die Wangen und fielen in einzelnen Tropfen auf die Tischplatte. »Donald hat mir alles gegeben, wonach ich mich immer gesehnt hatte«, sagte sie schließlich, als sie wieder in der Lage war zu reden. »Und weil er mich zu einer Märchenprinzessin gemacht hat, habe ich im Gegenzug alles getan, um ihn zu erfreuen. Vielleicht war das das Problem. Irgendwann in dieser Zeit habe ich mich selbst verloren.«
»Nein‚ Darling«, sagte Croaker, »du warst bereits verloren, als du ihn kennengelernt hast.«
Croaker starrte auf das Foto von dem Model im durchsichtigen Plastiktrenchcoat, bevor er auf Rachels Bett einschlief. Später schlich Matty auf Zehenspitzen in den Raum und deckte ihn mit einer leichten Baumwolldecke zu. Bevor sie seine linke Körperhälfte in die Decke einwickelte, warf sie einen langen Blick auf seine künstliche Hand. Sie mußte sich nicht fragen, wie es war, so verstümmelt zu sein. In den ersten beiden Monaten, nachdem Donald sie verlassen hatte, hatte sie sich gefühlt, als wären ihr die Beine amputiert worden. So tot ihre Ehe auch gewesen war, hatte sie sie doch am Leben gehalten. Sie hatte geglaubt, ohne sie sterben zu müssen. Daß es nicht passiert war, war einer kleinen Erleuchtung gleichgekommen.
Als sie ihren Bruder zugedeckt hatte, wurde ihr bewußt, daß sie ihn nie danach gefragt hatte, was genau mit seiner linken Hand passiert war. Typisch, dachte sie. Es war nicht ihre Art, sich jemandem anzuvertrauen oder bei anderen nach Vertrauen zu suchen. Jede Art von Intimität, die nicht rein physisch war, empfand sie als schmerzlich Das war schon seit vielen Jahren so und inzwischen zur Gewohnheit geworden. Aber jetzt erkannte sie, daß es ein fürchterlicher Fehler gewesen war - wahrscheinlich bei Donald, bei Rachel mit Sicherheit.
Matty wünschte sich von ganzem Herzen, daß sie in der Lage gewesen wäre, Rachel nach der Trennung in ihre Obhut zu nehmen und ihre Tochter so ins Vertrauen zu ziehen, daß keiner von ihnen sich hätte allein fühlen müssen. Aber sie hatte es einfach nicht gekonnt. So viele fürchterliche Gefühle…
In ihrem Elend begriff sie jetzt, daß sie öfter vermutet hatte, daß Rachel eine schwierige Zeit durchmachte. Sie hatte es sich einfach nicht eingestehen können. Aber jetzt traf sie das ganze Ausmaß des seelischen Leides ihrer Tochter mit der Kraft eines Güterzuges. Plötzlich brach sie zusammen, als hätte man ihr alle Luft aus dem Körper gepumpt. Ihre Beine gaben nach, und sie fand sich kniend auf dem Fußboden von Rachels Zimmer wieder. Der Teppich fühlte sich an ihren brennenden Wangen rauh an, und sie sog mit jedem verkrampften Atemzug den Geruch ihrer Tochter ein, als wäre er das Lebenselixier, das sie aufrecht halten könnte.
Was konnte sie noch tun, außer zu beten? »Lieber Gott«, flüsterte sie. »Laß meine Tochter nicht sterben, bevor ich die Chance hatte, sie richtig kennenzulernen«
DRITTER TAG
6
Croaker war schon vor der Morgendämmerung wieder auf den Beinen. Er verfügte über eine Art biologischen Wecker, der ihn noch nie im Stich gelassen hatte. Er nahm eine Dusche, zog die gleiche Kleidung wie am Vortag an und verließ die Wohnung, ohne Matty zu wecken. Es würde noch Stunden dauern, bevor sie aufstand. Bei Gott, sie hatte den Schlaf nötig. Später konnte sie sich dann allein auf den Weg zum Krankenhaus machen.
Draußen glitten die glimmenden Lichter der Straßenbeleuchtung wie flüchtige Geister vorbei. Croaker lauschte auf das Brausen der Brandung, hörte statt dessen aber nur das Kreischen hungriger Möwen und das friedliche Plätschern des Intracoastals.
Er entschloß sich, zu Fuß zum Krankenhaus zu gehen. Das würde nicht länger als eine Viertelstunde dauern, und wenn er dort angekommen wäre, würde es bereits Tag sein. Dann brauchte er sich nicht darum zu kümmern, Mattys Lexus zurückzubringen. Sein Thunderbird stand immer noch auf dem Parkplatz des Krankenhauses - hoffentlich. Wenn er nicht gestohlen worden oder Vandalen zum Opfer gefallen war.
Er hielt unterwegs an einem Zeitungsautomaten und kaufte ein
Weitere Kostenlose Bücher