Schwarze Heimkehr
Exemplar der Sun-Sentinel, der Tageszeitung des Broward Countys. Darin würde er eine Liste aller Veranstaltungen finden, die im Moment in dieser Gegend stattfanden. Er blätterte die Lokalnachrichten durch und suchte nach der richtigen Seite.
Es war kein Zufall gewesen, daß er im Zimmer seiner Nichte eingeschlafen war. Er hatte die Atmosphäre ein Saugen und seinem Unterbewußtsein die Möglichkeit geben wollen, die Bedeutung dessen aufzuarbeiten, was er gesehen hatte. Irgend etwas in Rachels Zimmer hatte nicht Zu dem Bild gepaßt, daß er sich im Geist zurechtgelegt hatte. Paßten Teile eines Puzzles nicht, bedeutete das normalerweise, daß die Vorstellung, die man sich geformt hatte, in irgendeiner Weise falsch war.
Einst verließ ich das Haus, hatte Stone Tree ihm einmal erzählt. Ich hatte Hunger, und der Hunger hatte mich nach draußen in den Regen getrieben. Aber in dem Augenblick, da ich das Boot berührte, wußte ich Bescheid. Wenn ich hinausgefahren wäre, wäre ich nicht zurückgekehrt. So bin ich wieder ins Haus gegangen. Ich habe die Tür verrammelt und die Fenster geschlossen. Innerhalb einer Stunde war der Wind so stark, daß er Sand durch die Ritzen in meiner Hauswand trieb. jetzt erinnere ich mich daran. Wenn ein Gedanke nicht richtig zu sein scheint, muß man ihn beiseite schieben.
Als Croaker eingeschlafen war, hatte er das Bild des Models im Kopf gehabt, aber irgend etwas an diesem Bild schien nicht zu stimmen. Er war aufgewacht und hatte vor seinem geistigen Auge das seltsame Wort gesehen, daß jemand von Hand auf die Rückseite der schwarzen Lederjacke geschrieben hatte, in der er das Kokain gefunden hatte. Die Gedanken, Bilder oder Eindrücke, die ihm direkt vor dem Einschlafen - oder wenn er aufwachte - kamen, waren häufig die unverfälschtesten und deshalb wahrsten, auch wenn sie auf den ersten Blick keinen Sinn zu machen schienen. Wenn später andere Teile des Puzzles dazukamen, machte alles Sinn. Sie brachten Croaker immer auf die Wahrheit.
Auf der Rückseite der Lederjacke hatte MANMAN gestanden. Was um alles in der Welt war ManMan? Er hatte in der letzten Nacht keine Idee gehabt und noch nicht einmal gewußt, ob die Sache überhaupt eine Bedeutung hatte. Aber am Morgen war aus seiner Intuition schnell ein Verdacht erblüht. Er war aufgestanden und hatte nacheinander die Poster der Rockbands angestarrt.
Er war etwa in der Mitte der Flagler Bridge angekommen, als er die Liste der Clubs und Diskotheken in der Sun-Sentinel fand. Oberflächlich betrachtet, schien es eine ziemlich gewagte Hypothese zu sein, hier fündig zu werden, aber er ging die Listen und die Anzeigen durch. Dabei dachte er über die Lederjacke nach und darüber, wann Rachel sie wohl tragen würde. Vielleicht an Regentagen‚ obwohl Leder nicht wasserdicht war. An den paar wirklich kühlen Tagen im Winter? Okay. Und wann sonst noch? Nachts, wenn sie die Clubs besuchte.
Und jetzt war er hier und suchte nach Clubs, wo Live-Konzerte stattfanden, weil…
Als er fast das Ende der Brücke erreicht hatte, blieb er stehen. Er faltete die Zeitungsseite zweimal in aller Ruhe, bis die kleine rechteckige Anzeige in der Mitte besser hervorstach. Irgendwo, nicht weit entfernt, begann die Maschine eines Motorbootes zu gurgeln, und das ruhige Wasser des Intracoastals kräuselte sich. Für einen Moment schlug Croaker der süßliche Geruch von Schiffsdiesel entgegen, bevor er von der Morgenbrise davongetragen wurde. Lachsfarbenes Licht färbte die seitliche Wolkenbank direkt über dem östlichen Horizont. Bald würde die Flotte von Fischerbooten und Vergnügungsjachten die Anker lichten und auf ihrem Weg in Richtung Atlantik unter der Brücke hindurchfahren. Er nahm den Geruch des Ozeans wahr und hörte das Kreischen der Möwen und Fregattvögel, aber nur aus der Ferne, als gehörten sie zu einer anderen Welt.
Eine Gruppe namens ManMan spielte zur Zeit in einem Club an der Washington Avenue in South Beach, der Lightning Tube hieß. Croaker überprüfte die Daten und die Zeiten der Auftritte. Er stellte sich Rachel - während er in Richtung Krankenhaus weiterging - in dem Club vor. Sie trug die Lederjacke mit dem MANMAN-Schriftzug und sprach mit einem Mitglied der Band, vielleicht mit einem großen schlanken Gitarristen namens Gideon, der ihre Hand ergriff und ihr ein etwa dreißig Gramm schweres Päckchen mit Kokain übergab. Das klang logisch oder besser: Er fühlte, daß es stimmte. Während er in Rachels Zimmer geschlafen hatte,
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