Schwarze Piste
»Weiß man, wer es war?«, fragte er schließlich mit belegter Stimme.
»Nein.«
»Und warum …? Und Sophie …? Ich meine, hängt das zusammen? Ich versteh das nicht. Was ist da los?« Er deutete auf das Schreiben.
»Das möchte ich dir im Augenblick noch nicht sagen. Ich steh selbst unter Schock und muss erst mal nachdenken. Und ich hab, offen gesagt, eine Scheißangst, dass ich die Nächste bin.«
»Annette, um Himmels willen! Ich glaube das alles nicht. Läuft da ein Verrückter draußen herum, der eure damalige WG auslöschen will?«
»Ob es ein Verrückter ist, weiß ich nicht. Ich habe einen Verdacht. Aber ich weiß es nicht.«
»Du musst zur Polizei gehen. Sag ihnen, was du vermutest. Die müssen das überprüfen. Aber geh bitte zur Polizei. Und in der Zwischenzeit nimm dir ein Hotelzimmer, oder meinetwegen kannst du auch bei mir wohnen. Wir haben ein Gartenhaus.«
»Danke, das ist sehr nett von dir. Aber ich muss erst mal schauen, was ich eigentlich selber will.« Vor dem Fenster fiel Schnee vom Ast eines der Alleebäume und riss weitere Schneekissen mit sich. Eine Amsel flog davon. »Wenn ich zur Polizei gehe, brauche ich einen Anwalt. Würdest du mir helfen?«
»Natürlich. Jörg hat mich in dem Schreiben ja darum gebeten. Ich muss mir die Sache allerdings genau ansehen. Es kann sein, dass ich für Jörgs Familie tätig werde. Nicht, dass es da Interessenkonflikte gibt.«
»Du machst Strafrecht?«
»Hauptsächlich.« Er sah Annette Schildbichler nachdenklich an. »Ich hab mich immer gewundert, warum er mir den Brief übergeben hat. Nachlasssachen sind sonst nicht mein Gebiet. Ich schätze, er wusste, warum.«
Annette Schildbichler kaute auf ihrer Unterlippe und schien zu überlegen, ob sie dem Anwalt ihr Geheimnis anvertrauen sollte.
»Wartest du kurz draußen? Ich muss ein paar Telefonate führen. Wer ermittelt bei den Morden?«
»Ich denke, die Polizei am Tegernsee. Beide Leichen wurden am Wallberg gefunden.«
»Dann ist Miesbach zuständig.« Er wirkte unschlüssig. »Sei so gut und warte draußen. Du kannst ja in der Zwischenzeit überlegen, ob du mir was sagen willst.«
Ein paar Telefonate später hatte Sperber ausreichende Gewissheit, dass Sophie Kramm und Jörg Immerknecht nicht mehr lebten. Er begab sich zum Firmensafe der Kanzlei, der in mehrere Boxen unterteilt war, über die die einzelnen Partner verfügen konnten. In Sperbers Box befanden sich eine Handvoll Briefe und Päckchen von Mandanten, die in Haft saßen und für bestimmte Fälle verfügt hatten, dass die hinterlegten Sachen an jemanden übergeben wurden. Sperber interessierte sich nicht für den Inhalt dieser Briefe und Päckchen und hoffte, dass er sich nicht der Beihilfe zu allzu schlimmen Verbrechen schuldig machte. Jörg Immerknechts Brief hatte Normalformat und war mit Siegellack verschlossen.
Annette Schildbichler betrachtete den Brief mit einer gewissen Sorge und wog ihn in der Hand. Er war sehr dünn, ein einziges Blatt Papier würde er vermutlich enthalten, höchstens zwei. Sie steckte den Brief in ihre Jacke, ohne ihn zu öffnen. Sperber schenkte ihr währenddessen Kaffee ein.
»Ich will dich zu nichts drängen«, sagte er. »Aber nach dem, was du mir erzählst, solltest du zur Polizei gehen. Ich weiß nicht, worum es geht. Du kannst besser abschätzen, in welcher Gefahr du dich befindest. Aber nimm’s nicht auf die leichte Schulter. Wenn jemand schon zwei Mal gemordet hat, kommt es ihm auf ein drittes Mal nicht an.«
Annette Schildbichler nickte. »Wenn ich dir erzähle, was hinter der Sache mit dem Brief steckt, wirst du es wahrscheinlich kaum glauben. Es ist einfach zu abstrus.« Sie sah sich im Raum um. »Gespräche zwischen Anwälten und ihren Klienten sind vertraulich, oder?«
»Absolut. Ich mach mich strafbar, wenn ich mein Schweigen breche.«
Sie schien nachzudenken und Luft zu holen für den großen Befreiungsschlag, der ihr den Druck nehmen sollte, dem sie nicht länger standhalten konnte. Da läutete ein Handy. Zunächst schien Annette Schildbichler irritiert, sah Sperber fragend an.
»Meins ist es nicht«, sagte er.
Zwei Griffe, und sie hatte ihr eigenes Handy aus der Jacke gezogen. Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht. »Schildbichler«, sagte sie. »Ja, das geht. Wenn Sie wollen, können wir uns in München treffen … Ich bin in Nymphenburg. Wie wär’s am Platz der Freiheit, in dem Café? … Gut. Bis dann.« Sie legte auf. Sperber sah sie fragend an. »Das war die
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