Schwarze Piste
Hier gab es auch Eiben, kleine Fichten und anderes immergrünes Gehölz, das vor Blicken schützte. In einer Art Nische stand ein steinernes Kreuz, das mit Efeu überwachsen war. Kreuthner ging links an der Terrasse vorbei zur Rückseite des Hauses. Die Fenster waren mit modernen metallenen Rollläden verschlossen. Auf der Rückseite des Hauses war Feuerholz gestapelt, neben dem Stapel eine hölzerne Tür, die mit einer Schließvorrichtung versehen war, in die man einen PIN -Code eingeben musste. Kreuthner überlegte, scannte die Umgebung, und schließlich blieb sein Blick am Holzstapel neben der Tür hängen. Erinnerungen kamen hoch. An das elende Häuschen, das Kreuthner mit seiner Mutter bewohnt hatte, auch dort ein Holzstapel neben der Tür, unter dem dritten Scheit der Schlüssel. Allerdings hätte kein Einbrecher seine Zeit damit verschwendet, bei den Kreuthners einzubrechen. Das Wertvollste im Haus war ein zwölf Jahre alter Schwarzweißfernseher gewesen. Kreuthner ging in die Knie und lugte in die Zwischenräume zwischen den Scheiten. Es dauerte nicht lang. Er sah etwas Flaches, das wie Kunststoff glänzte, eine Art Plastikkarte. Er räumte die darüberliegenden Scheite weg und stieß auf ein scheckkartengroßes Stück Papier, das in Plastik eingeschweißt war. Auf dem Kärtchen stand eine sechsstellige Zahl. Kreuthner tippte sie auf dem PIN -Pad neben der Tür ein, es klackte, und das kleine rote Licht wurde grün.
Im Inneren des Hauses erwartete Kreuthner eine andere Welt. Das Erdgeschoss bestand aus einem großen Raum, wenn man von einer Abstellkammer und einer Toilette absah. Auch die Küche war Teil des großen Raums. Der Boden war mit dunklem Massivholzparkett ausgelegt, an den Wänden hatte man die Ziegelmauern freigelegt und weiß getüncht, ab und an ein modernes Gemälde, das jeweils von einem eigenen Spot beleuchtet wurde – wenn man die Beleuchtung einschaltete, was Kreuthner vorsichtshalber nicht tat. Durch das Terrassenfenster aus bruchsicherem Verbundglas, das über keine Jalousie verfügte, drang genügend Licht ins Haus. In der Mitte des Raums stand eine sehr große Couch, die ebenso wie der zugehörige Couchtisch und die anderen Möbel von erlesenem Design und vermutlich schwindelerregend teuer war. Die vom Terrassenfenster am weitesten entfernte Ecke des Raums war mit einem Computer und mehreren Fernsehflachbildschirmen ausgestattet. An den Wänden dort hingen Kurs-Charts und Artikel aus Wirtschaftsmagazinen und dem Börsenteil diverser Tageszeitungen.
Im ganzen Raum schien es keine persönlichen Gegenstände zu geben. Bis auf ein Bild über dem offenen Kamin, das eine junge Frau zeigte. Das Foto war von einem Profi angefertigt worden, dem es gelungen war, die Frau in einem Moment verträumter Melancholie abzulichten, die dem makellos schönen und in gewöhnlichen Momenten vielleicht ausdruckslosen Gesicht ein Geheimnis gab, eine Seelentiefe ahnen ließ, die den Betrachter berührte. Weitere Fotos des Mädchens befanden sich, wie Kreuthner jetzt feststellte, in silberne Rahmen gefasst auf dem Schreibtisch neben dem Computer. Er löste eine der Aufnahmen aus ihrem Rahmen und steckte sie in seine Jacke.
Der Computer ließ sich zwar einschalten, verlangte aber zur weiteren Benutzung ein Passwort. Und hier gab es keine Holzstapel. Also fuhr Kreuthner den Rechner wieder herunter und durchsuchte das Haus.
Das Schlafzimmer im ersten Stock war nicht sonderlich groß, aber offenbar ebenfalls von einem Innenarchitekten eingerichtet worden. Es war kaum vorstellbar, dass der Nerd und Kerzenfabrikantensohn Baptist Krugger selbst einen derart extravaganten Geschmack entwickelt hatte. Was Kreuthner aber weit sonderbarer erschien, war der Umstand, dass das angrenzende Zimmer in einen begehbaren Kleiderschrank umgebaut worden war. Kein Mann ließ sich einen begehbaren Kleiderschrank bauen, wenn er nicht homosexuell und Modeschöpfer war. Und tatsächlich hingen in diesem Schrankzimmer fast ausschließlich Frauenkleider. Dazu gab es drei Regale mit gut sechzig Paar Damenschuhen.
Von draußen hörte Kreuthner Motorengeräusche und ein metallisches Schaben. Er trat an das Fenster und zog die Jalousie so weit hoch, dass er durch die Lamellen sehen konnte. Auf dem Stichweg zum Haus kam der Schneepflug gefahren. Das schien Kreuthner kein gutes Vorzeichen zu sein. Vielleicht hatte der Hausbesitzer sein Kommen angekündigt. Es war Zeit, das Haus zu verlassen.
Zurück im Erdgeschoss, fiel Kreuthners Blick
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