Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
ein Wahnsinniger.“
„Niemand tut so etwas“, rief Violet verzweifelt. „Am Allerwenigsten John Chrestle, denn er ist längst tot.“
Forch hatte jetzt einen schmalen Ordner hervorgezogen und setzte die Brille auf, bevor er darin herumblätterte.
„Ich habe die Zeitungsberichte über die Kriegsereignisse in Ägypten vor zwei Jahren gesammelt, weil auch zwei meiner Neffen mit dabei waren. Zum Glück sind beide heil und gesund wiedergekommen. Warten Sie … Hier ist die Meldung, sie stammt vom 30. Oktober 1882.“
Er hielt ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Papier in der Hand und drehte sich damit zum Fenster, damit das Licht darauf fiel.
„Leutnant John Chrestle starb als Held für Königin Victoria und das Empire am 28. August 1882 in der Schlacht bei Mahsama.“
„Das war während des Urabi-Aufstandes in Ägypten“, sagte Violet und versuchte sich zu erinnern. Damals war ihr Leben noch glücklich und heiter verlaufen, sie hatte mit den Eltern am Abend zusammengesessen und ihr Vater hatte aus der Zeitung vorgelesen. Der Aufstand hatte nur ein paar Monate gedauert und wurde schließlich Mitte September von den Briten niedergeschlagen.
„Bei Mahsama standen damals 2000 britische Soldaten unter General Graham gegen eine Übermacht von 10 000 Ägyptern“, sagte Forch und setzte seine Brille ab. „Einer meiner Neffen hat mir berichtet, dass die Aufständischen in diesem Kampf auch Gefangene machten. Man hat die armen Kerle gefoltert und schließlich hingerichtet. Die Leichen wurden irgendwo verscharrt, die Ägypter haben sie nicht herausgegeben.“
Er legte den Zeitungsausschnitt sorgfältig wieder in den Ordner zurück und sah Violet nachdenklich an. „Was wollen Sie damit sagen?“
„Ganz einfach. Wäre Leutnant Chrestle tatsächlich am 28. August gefallen, so wäre diese Meldung wenige Tage später in der Zeitung gewesen. Sie erscheint jedoch erst nach zwei Monaten. Das bedeutet, dass sein Schicksal zunächst ungeklärt war – vermutlich geriet er in Gefangenschaft.“
„Aber wie haben seine Eltern dann von seinem Tod erfahren?“
„Soweit mir erzählt wurde, haben die besiegten Ägypter später die persönlichen Andenken der Toten herausgeben müssen, die sie ihnen geraubt hatten. Eheringe, Medaillons, silberne Tabakdosen und dergleichen mehr. Vermutlich haben die Chrestles irgendetwas in dieser Richtung erhalten. Damit war der Tod ihres Sohnes so gut wie sicher.“
„Es ist hin und wieder vorgekommen, dass Gefangenen die Flucht gelang“, sagte Forch. „Es gab auch Fälle, in denen ein Gefolterter für tot gehalten und irgendwo in der Wüste liegen gelassen wurde. Mit viel Glück und der Hilfe einiger mitleidiger Beduinen hätte er überleben können. Solche Ereignisse sind extrem selten und ein Mensch, dem so etwas widerfährt, wird für den Rest seines Lebens davon gezeichnet sein.“
„Er könnte wahnsinnig werden?“
„Was auch immer“, sagte Forch und legte die Akte wieder in den Schreibtisch zurück. „Das alles ist nur eine These. Um Genaueres zu erfahren, müsste man die Chrestles befragen.“
Violet war so aufgeregt, dass sie zitterte. Es war also doch möglich, dass John Chrestle noch lebte. Ihr Besuch bei Mrs. Chrestle fiel ihr wieder ein. Die seltsam unheimliche Stimmung in jenem Raum, in dem sie Klavier gespielt hatte. Die Bewegungen der Vorhänge. Das Gesicht, das sie gestern früh am Fenster des Hauses gesehen hatte.
Forch hatte sich wieder auf seinen Sessel gesetzt und hörte ihr ruhig zu, doch seine klaren, kühlen Augen glitzerten.
„Das scheint mir alles etwas fantastisch, liebe Violet“, meinte er lächelnd. „Vorhänge bewegen sich nun mal, wenn irgendwo ein Fenster offen steht. Und das Gesicht zwischen den Gardinen – nun, es könnte einer der Angestellten gewesen sein.“
„Wahrscheinlich“, seufzte sie. „Ja, sicher spielt mir meine Fantasie einen Streich. Wenn John Chrestle tatsächlich bei seinen Eltern wäre, dann würden sie das doch nicht geheim halten, oder?“
„Es sei denn, er hätte sie darum gebeten“, murmelte Forch. „Wenn John bei seinen Eltern versteckt wäre – wir hätten nicht die mindeste Chance an ihn heranzukommen. Die Chrestles gehören zu einer gesellschaftlichen Schicht, auf die die Polizei keinen Zugriff hat.“
„Und Nicholas?“, fragte Violet besorgt. „Er ist immerhin ihr Schwiegersohn – sie werden ihn nicht abweisen können. Was wird geschehen, wenn er sie nach John fragt? Oder wohlmöglich sogar im Haus
Weitere Kostenlose Bücher