Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
geschenkt hatte.
Die Notentasche war am gestrigen Abend verloren gegangen – ein schmerzhafter Verlust. Nicht wegen der leicht verschlissenen Ledertasche, sondern wegen des Sonatenbands, den sie momentan auf keinen Fall ersetzen konnte. Auch wenn sie die meisten Werke auswendig konnte, so war es doch schlimm, die Noten, die ihr Vater damals für sie gekauft hatte, nicht mehr zu besitzen.
Als sie jetzt suchend mit der Hand in die Manteltasche fuhr, stellte sie zu allem Unglück noch dazu fest, dass die fünf Pence, ihr mühsam verdienter Lohn, nicht mehr vorhanden waren. Hatte sie das Geld bei ihrer hastigen Flucht verloren? Oder hatte etwa die Alte, die sich in der Menge so fest an sie geklammert hatte, ihr die Manteltasche geleert? Konnte sie dieses gruselige Zeug über den Mörder von Whitechapel nur ein Ablenkungsmanöver gewesen sein, um sie leichter bestehlen zu können?
Seufzend suchte Violet einen alten Beutel hervor, packte einen Stapel Noten hinein und brach auf. Wenig später drängte sie sich durch die vielen Heuwagen, die wie jeden Samstag in Whitechapel unterwegs zum Markt waren, und atmete auf, als sie St. Paul erreichte. Sie konnte sich Zeit lassen – ihre Arbeit begann erst gegen sechs Uhr am Abend.
Das „Green Palace Hotel“ lag in der Northumberland Avenue und war schon von Weitem an der überdimensional großen Schrift zu erkennen, die im obersten Stockwerk an den Außenwänden prangte. Es war ein dunkelgraues, sechsstöckiges Gebäude mit hohen, schmalen Fenstern und einem rechteckigen Säulenvorbau, zu dem einige Stufen hinaufführten. Vor dem Eingang hatte ein Zweispänner gehalten, in dem eine Dame im silberfarbigen Pelz saß. Jetzt eilte ein feister Hotelangestellter auf das Gefährt zu, öffnete den Kutschenschlag und ließ die Lady unter tiefen Verbeugungen aussteigen. Diener in Livree sprangen herbei, um Koffer und Hutschachteln abzuladen und ins Hotel zu tragen. Violet sah dem Schauspiel eine Weile zu, ehe sie den schmalen Eingang für die Bediensteten suchte, wo sie mit Herzklopfen den engen Flur betrat.
Intensiver Küchengeruch schlug ihr entgegen, Fleisch wurde angebraten, fremde Gewürze und Gemüse dufteten, ärgerliches Schelten drang an ihr Ohr. Ein grauhaariger Herr im eleganten, dunklen Anzug lief mit eiligen, ein wenig steifen Schritten über den Flur und stutzte, als er sie erblickte.
„Was haben Sie hier zu suchen? Wer sind Sie?“, fuhr er sie an.
Seine Miene war so einschüchternd, dass sie große Lust hatte, kehrt zu machen und wieder davon zu laufen, doch sie nahm sich zusammen.
„Ich bin Violet Burke, Sir“, sagte sie leise. „Ich soll heute Abend im Speisesaal Klavier spielen.“
Seine kühlen Augen maßen sie abschätzend, dann trat er dicht an sie heran und forderte:
„Legen Sie den Mantel bitte ab, Miss Burke.“
Verwirrt tat sie, was er verlangte und spürte, wie er sie genaustens von oben bis unten musterte. Seine Hand berührte sacht die Knöpfe des Kleides, dann glitt sie bis zu ihrer Taille und legte sich leicht auf ihre Hüfte. Violet erzitterte und spürte, wie ihr Körper sich vor Abwehr versteifte.
„Ein hübsches Kleidchen“, sagte er. „Sie tragen eine Korsage darunter, nicht wahr?“
Sie wurde tiefrot.
„Wie soll ich diese Frage verstehen?“
Er setzte eine geschäftsmäßige Miene auf.
„Ich trage Sorge dafür, dass Sie unserem Haus keine Schande machen, Miss Burke. Würden Sie sich bitte einmal umdrehen?“
Sie wäre am liebsten davongelaufen, aber sie dachte an das Geld und gehorchte.
Sie spürte, wie seine Hand über ihren Rockbund fuhr und sich schwer in den Stoff ihrer Röcke legte. Als sie erschreckt zusammenzuckte, umfasste er rasch ihre Taille, drängte ihren Körper dicht zu sich heran und fuhr mit einer Hand zwischen ihre Beine, wobei er den Daumen nach oben reckte.
Sie schrie auf, und er ließ sie rasch los.
„Nun schön“, sagte er. „Gehen Sie geradeaus, dann zweimal links und durch den Seiteneingang in den Speisesaal. Das Klavier steht neben dem Kamin an der Schmalseite des Raumes. Gehen Sie auf keinen Fall durch die Halle. Und lassen Sie Hut und Mantel im Personaltrakt.“
Violet hörte kaum zu. Mit hämmerndem Herzen eilte sie durch den Flur, war einen Augenblick lang fest entschlossen, das Hotel auf dem schnellsten Weg zu verlassen – dann fiel ihr wieder das Geld ein. Nein – sie würde es durchstehen.
Es war kurz vor sechs und im Inneren des großen Hotels schien ein unsichtbarer Bienenschwarm zu
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