Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
gerade mit dem Spiel beginnen, als sie glaubte, eine bekannte Stimme zu vernehmen. Erschrocken blickte sie nach links und stellte fest, dass gleich neben dem Kamin zwei Herren Platz genommen hatten. Einer von ihnen saß mit dem Rücken zu ihr, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, doch sie war fast sicher, dass es sich um Nicholas Marlow handelte. Der andere war ein wenig kleiner, von breiter Statur, Haar und Schnurrbart schon leicht ergraut, doch es war noch zu erkennen, dass sie früher einmal feuerrot gewesen sein mussten.
Der Gedanke, dass Nicholas Marlow sie gesehen haben könnte, gefiel ihr wenig, und sie hoffte inständig, dass sie sich täuschte. Während ihre Finger über die Tasten glitten, schielte sie immer wieder nach links hinüber, und als der Mann, der mit dem Rücken zu ihr saß, sich dem Kellner zuwandte, erkannte sie beklommen Marlows scharfes Profil.
Nun – wenigstens konnte er sie nicht beobachten. Und überhaupt konnte es ihr gleichgültig sein – er sollte ruhig wissen, dass sie in der Lage war, sich ihren Lebensunterhalt auf anständige Weise zu verdienen.
Die Zeit verging – die Gäste wechselten, man ging hinüber in die Halle, frequentierte das Kaminzimmer, wo geraucht wurde, einige Gäste orderten Droschken zum Theater, zu Konzerten oder zu einem der Klubs. Violets Rücken begann zu schmerzen, ihre Finger wurden lahm und zu allem Überfluss knurrte ihr der Magen. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Neidisch lugte sie hinüber zu Marlow und seinem Bekannten, die sich mehrere Gänge servieren ließen, dazu verschiedene Sorten Wein und sogar ein Dessert. Allerdings war es eher der rothaarige Bekannte, der sich mit großem Appetit über die Mahlzeit hermachte, während Marlow fast alle Gänge kaum angerührt zurückgehen ließ. Auch dem Wein sprach er wenig zu, er trank nur etwas Portwein und hielt sich ansonsten an Sodawasser.
Wahrscheinlich hat er einen empfindlichen Magen, dachte sie und gönnte es ihm. Außerdem stellte sie fest, dass er offensichtlich nur wenig sprach, den größeren Teil der Unterhaltung bestritt sein Freund, der unausgesetzt irgendwelche Anekdoten erzählte, dabei hin und wieder schmunzelte und Marlow fröhlich zutrank.
Ein netter Kerl, dachte sie. Merkwürdig, dass er die Gesellschaft dieses Marlow sucht. Nun ja – Gegensätze ziehen sich eben an.
Es war schon nach zehn Uhr, als die letzten Gäste endlich den Saal verließen, und Violet hatte etliche Stücke wiederholen müssen, denn ihr ging das Repertoire aus. Aufatmend spielte sie den letzten Akkord, verzog das Gesicht wegen der unreinen Töne und rieb sich dann die schmerzenden Schultern.
„Sie spielen sehr angenehm, meine Liebe“, hörte sie plötzlich eine sanfte Frauenstimme hinter ihrem Rücken. Erstaunt wandte sie sich um und erblickte eine schwarz gekleidete Lady, die sie mit mütterlichem Wohlwollen anlächelte.
„Oh vielen Dank, Mylady“, stammelte Violet beschämt. „Ich tue mein Bestes und freue mich, dass es Ihnen gefallen hat.“
Die Lady hatte feine Gesichtszüge, die Violet trotz des Lächelns sehr ernst erschienen. Vielleicht wurde dieser Eindruck jedoch durch die dunkle Kleidung und den zierlich gearbeiteten Hut hervorgerufen, der mit schwarzem Schleierstoff geschmückt war. Sie nickte Violet noch einmal freundlich zu und ergriff dann den Arm eines älteren Gentlemans, der wartend neben ihr stand und Violet mit einer seltsamen Mischung aus Anteilnahme und Ablehnung betrachtete.
„Diese Ähnlichkeit“, hörte Violet die Lady leise sagen, während sie am Arm des Gentlemans aus dem Saal ging.
„So etwas kommt vor, meine Liebe“, gab er zurück. „Es sollte dich nicht weiter beunruhigen.“
Violet war das Lob der freundlichen Lady eher peinlich gewesen, denn sie glaubte, es nicht verdient zu haben. Zudem fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Wenn sie jetzt doch nur einfach ins Bett sinken könnte! Aber sie hatte leider eine knappe Stunde Fußweg bis Whitechapel vor sich und natürlich war es draußen längst dunkel.
Ob sie sich eine Droschke leisten sollte? Immerhin hatte sie heute eine Menge Geld verdient.
Sie schloss den Klavierdeckel, nahm die Noten unter den Arm und spähte nach einem der Kellner. Irgendjemand musste ihr doch sagen, wo sie sich ihren Lohn auszahlen lassen konnte.
Während sie im Bedienstetentrakt in den Mantel schlüpfte und ihren Hut befestigte, entdecke sie in einem schmalen Nebenraum den blonden Kellner, der dort mit einem der
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