Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
den gestrigen Abend zu sprechen kommen? Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Sie hatte gestern ganz eindeutig die Grenzen der guten Erziehung überschritten und Marlow schien ganz der Mann, der so etwas ausnutzen würde. Sie musste sich mit kühlem Verstand gegen seine Annäherungsversuche wappnen.
Als sie mit klopfendem Herzen und unnahbarer Miene ins Speisezimmer trat, fand sie Marlow hinter der aufgeschlagenen Zeitung verborgen. Ihrem Erscheinen widmete er keinen einzigen Blick, auch regte sich die entfaltete „Times“ vor seiner Nase um keinen Millimeter.
„Guten Morgen, Mr. Marlow“, sagte sie schüchtern, während sie sich ihrem Stuhl näherte.
„Beeilen Sie sich mit dem Frühstück“, kam es scharf hinter der Zeitung hervor. „Wir haben einiges zu bereden und ich habe wenig Zeit.“
Er hatte nicht einmal ihren Morgengruß beantwortet. Violet verspürte tiefe Enttäuschung, ein Gefühl, das sie sogleich von sich wies. Eher sollte sie erleichtert sein.
„Natürlich, Mr. Marlow.“
Immerhin war ihr keineswegs der Appetit vergangen und sie lud sich den Teller voll, um die abgekürzte Frühstückszeit zu nutzen. Während sie aß, wendete er hin und wieder die Zeitung und sah kurz zu ihr hinüber. Im langsam erwachenden Morgenlicht erschienen seine Augen wieder grau und sein Blick war kühl. Er beobachtete sie, um festzustellen, wann sie endlich zu essen aufhörte.
Als sie ihren Teller geleert hatte und noch einen Schluck Tee nahm, faltete er die Zeitung hastig zusammen und legte sie neben sich. Seine Miene war angespannt, er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und neigte sich ein wenig vor, während er sprach.
„Wir haben eine anstrengende Woche vor uns, Miss Burke. Ich bitte Sie daher, mir genau zuzuhören und sich die Termine einzuprägen.“
Er sprach in kaltem, geschäftsmäßigem Ton – wie hatte sie nur glauben können, er wolle in irgendeiner Weise an den gestrigen Abend anknüpfen? Sie straffte sich.
„Ja, Mr. Marlow.“
„Heute Nachmittag werden Sie mich zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung begleiten. Eine kleine Versammlung im Haus einer gewissen Mrs. Wickfield. Die Lady hat vor einigen Jahren ihr Herz für die vernachlässigten Kinder des Eastend entdeckt und einen Hilfsfond gegründet. Sie wird eine flammende Rede halten, alle Anwesenden zu Tränen rühren und dann die Spenden einsammeln.“
„Wie großherzig von Mrs. Wickfield“, bemerkte Violet. „Sie ist ganz gewiss eine Lady von großer Willensstärke und klarem Verstand. Es gibt viel Elend zu lindern im Eastend.“
Er warf ihr einen schrägen Blick zu und verzog den Mund zu einem abschätzigen Grinsen.
„Eine blauäugige Schwätzerin, die glaubt, mit ein paar abgetragenen Kleidern und einigen Tellern Suppe gute Werke zu verrichten. Es ist Unsinn. Um das Elend im East End zu lindern, brauchen wir soziale Reformen und keine Almosen.“
Sie ärgerte sich über sein hartes Urteil und die Streitsucht erwachte in ihrem Inneren.
„Angesichts der Not dieser Straßenkinder, sind die Aktivitäten dieser mutigen Lady immer noch mehr wert, als die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Lords im Parlament.“
Marlow zog die Augenbrauen zusammen und die Finger seiner rechten Hand trommelten auf dem Tisch. Wieder fiel ihr auf, dass er die Manschetten tief über den Handrücken herabgezogen trug. Warum wohl? An seinem Schneider konnte es doch wohl nicht liegen.
„Sie sollten zur Kenntnis nehmen, Miss Burke, dass man ein Übel immer mit der Wurzel ausrotten muss“, sagte er lehrerhaft. „Solche Maßnahmen wollen klug überlegt und vorbereitet werden, denn es hängt für unser ganzes Empire außerordentlich viel davon ab.“
„Ich stelle nur fest, dass zahllose Menschen verhungern, während die Herren im Parlament ihre Zeit mit klugen Überlegungen verbringen. Ich habe das Gefühl …“
„Verschonen Sie mich bitte mit Gefühlen“, unterbrach er sie ungehalten. „Weibliche Gefühlsduseleien machen alles nur schlimmer statt besser. Weder die großherzige Mrs. Wickfield noch irgendeine andere dieser wuseligen Damen werden irgendetwas Entscheidendes bewirken. Was auch ganz natürlich ist – denn Frauen fehlt zu solchen Dingen der kühle Verstand.“
„Aber …“
Er ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern redete einfach über sie hinweg.
„Es wird auch bis zu Ihnen gedrungen sein, Miss Burke, dass der weibliche Verstand schwächer als der männliche ist. Ein Faktum, das schon seit Jahrhunderten bekannt ist, und das erst
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