Schwarze Rosen
vorsätzlichen Totschlag zur Last legen müssen? Oder Überschreitung der Grenzen der Notwehr bei legitimem Waffengebrauch? Lag ein Exzess in der Wahl der Mittel vor, oder konnte die Reaktion auf die erlittene Gewalt als angemessen betrachtet werden? Das waren verzwickte Fragen. Der Ablauf der Ereignisse ließ darauf schließen, dass der Schmuckhändler auf Mannshöhe gezielt hatte, also mit der Absicht, den Räuber zu treffen, was einige Zeugenaussagen bestätigten. Der Händler dagegen behauptete steif und fest, dass er nur auf den Hinterreifen des Motorrades gezielt habe, um die Flüchtigen aufzuhalten.
Ferrara war noch dabei, die verschiedenen Gesichtspunkte abzuwägen, als sein Sekretär mit einem gelben Umschlag hereinkam.
»Capo, der ist persönlich an Sie adressiert. Ein Carabiniere hat ihn im Auftrag seines Kommandanten gebracht«, sagte er und legte den Brief auf den Schreibtisch.
Der Commissario öffnete ihn.
Die dienstliche Mitteilung trug die Klassifikation Absolute Priorität .
Er las.
Giovanna Innocenti, ledig, geboren am 24. Juni 1968 in Florenz, Tochter der bekannten Familie Innocenti, Winzer und Weinhändler von internationalem Rang, wurde in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni 2004 in ihrer Wohnung im Borgo San Frediano ermordet. Das Opfer wurde vollständig nackt und mit Handschellen an das Kopfteil des Bettes gefesselt aufgefunden. Zwischen seinen Beinen lag eine künstliche schwarze Rose mit langem Stiel. Raub wird derzeit als Motiv ausgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft wurde informiert. Die Ermittlungen sind im Gange.
Maresciallo Gori, Kommandant des Fahndungsapparates
Ferrara legte das Schreiben ab und murmelte etwas.
Fanti spitzte die Ohren. Er wusste, dass der Chef allein in seinem Büro war, und wunderte sich. Musste wohl mit dem Inhalt des Briefes zusammenhängen. Nestore Fanti war drauf und dran, zu ihm hinüberzugehen, blieb aber sitzen und tippte weiter am Computer. Dann unterbrach er seine Arbeit, stand auf und streckte sich. Er arbeitete schon seiteiner Weile daran, die Überstunden der Kollegen zu verbuchen. Es war fast Ende des Monats, und wie es immer häufiger vorkam, ging die Rechnung nicht auf. Das der Squadra Mobile zugeteilte Budget war so knapp bemessen, dass es längst überschritten war, und zwar beträchtlich. Wann würden sie die Bezahlung der zusätzlichen Dienststunden vom Ministerium erhalten? In ein paar Monaten? Oder gar Jahren? Fanti machte einige Schritte, kehrte um und setzte sich wieder auf seinen Platz. Seine angeborene Schüchternheit und seine Unentschlossenheit gewannen die Oberhand.
Giovanna Innocenti! Eine langstielige schwarze Rose! Innocenti, ein hoch angesehener Name in Florenz … Ausgerechnet an ihrem Geburtstag und Namenstag, wie tragisch! Und diese Handschellen? Und diese Rose?
So etwas war noch nie da gewesen.
Ferrara schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.
Er stellte seine Überlegungen zu dem Raubüberfall zurück und las noch einmal die Meldung des Maresciallo, die eine neue Gedankenkette auslöste.
Der Schnitt in der Stirn der Verstorbenen.
Der Drohbrief.
Und jetzt ein grausamer, makabrer Mord.
Alles innerhalb weniger Tage.
Zu viel für Florenz.
Seltsam … diese schwarze Rose …
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Plötzlich regte sich etwas in seinem Gedächtnis.
Er merkte, dass es von Bedeutung war, schloss die Augen und versuchte, es schärfer zu umreißen. Sein Bewusstsein sprang zwischen jüngeren Erinnerungen und weiter zurückliegenden, bruchstückhaften hin und her. Bilder von Tötungsdelikten, Entführungen, Fotoalben voller Tatorte, Berichte, Notizen, Briefe …
Ja, das ist es! Er öffnete die Augen.
Dieser merkwürdige Brief!
Ferrara sprang auf und ging zu dem Aktenschrank, der sein persönliches Archiv enthielt.
Jede Menge Aktenmappen, ordentlich sortiert nach Dienstort und Jahr. Im Moment interessierte ihn nur die Zeit in Florenz. Irgendwo hier, hatte ihm sein Unterbewusstsein signalisiert, würde er etwas Relevantes finden. Nach einigem Blättern in den Unterlagen fiel sein Blick auf einen an ihn adressierten Umschlag ohne Absender. Normal frankiert und mit dem Poststempel Florenz, 15. April 2003 versehen. Weiß, gewöhnliche Handelsware, aber mit einer Auffälligkeit: der obere rechte Rand war angesengt. Möglicherweise absichtlich. Er öffnete den Umschlag und zog einen zweifach gefalteten Briefbogen heraus. Wenige Zeilen, am Computer geschrieben, genau wie die Adresse. Langsam ging der Commissario zu seinem Schreibtisch zurück,
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