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Schwarze Schafe in Venedig

Schwarze Schafe in Venedig

Titel: Schwarze Schafe in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Ewan
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zugeschlagen, dass es mir den kleinen Behälter aus den Fingern haute.
    Instinktiv griff ich mit beiden Händen nach seinem Handgelenk. Sofort versuchte er sich loszureißen und verfluchte mich in wortreichem, blumigem Italienisch, doch ich wusste, was passieren würde, wenn ich losließ, also klammerte ich mich mit aller Macht an ihm fest. Er krümmte den Finger am Abzug. Pfft. Es gab einen gleißend hellen Blitz, und dann zischte eine Kugel vorbei und schlug dumpf in die Decke ein, gefolgt von einem Hagelschauer aus zerborstenem Putz. Wurzelsepp brachte sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit, wobei sein kaputtes Bein unter ihm nachgab wie das verrottete Fundament einer einstürzenden Lagerhalle.
    Die Hand des Grafen wurde vom Rückstoß nach hinten weggeschlagen. Mit aller Kraft versuchte er, den Arm wieder zu senken, während ich krampfhaft versuchte, ihn in der Luft zu halten. Besser wäre es gewesen, hätte ich eine Hand wegziehen und ihm eins mitten auf die Zwölf verpassen können, aber dazu fehlte mir die Kraft. Bei ihm sah das allerdings ganz anders aus, und ihm schien eine ganz ähnliche Idee zu kommen. Mit der Hüfte schubste er mich beiseite, holte mit der freien Hand und dem Aktenkoffer aus und ließ das Ding wie ein Geschoss in hohem Bogen auf mich runtersausen, Zielgebiet Nierengegend. Schnell hob ich ein Bein und fing den Schlag mit der Hüfte ab. Worauf er mich nur noch heftiger verwünschte und ein zweites Mal ausholte, und in dem Augenblick trat ich ihm auf den Zeh. Ganz blöde Idee. Es funktionierte zwar, aber er sackte seitlich weg. Pfft. Die zweite Kugel zischte etwas tiefer vorbei und prallte, ping , von den Küchenfliesen ab. Hätte Wurzelsepp sich nicht eben geduckt, das Ding hätte seinen Bauch gelocht.
    Ich riss Borellis Arm nach oben, sodass die Pistole zur Decke zeigte, worauf wir beide das Gleichgewicht verloren und stolpernd übereinander fielen. Der Graf lag auf mir und drehte und wand sich verzweifelt und versuchte, mir mit den Ellbogen und seinem Eigengewicht die Luft aus den Lungen zu quetschen und mir den Kapuzenpulli ins Gesicht zu drücken, um mich zu ersticken. Und es funktionierte. Ich bekam keine Luft mehr. Mein Klammergriff ließ ein klitzekleines bisschen nach, und es hätte nicht mehr viel gebraucht, dann hätte er die Hand mit der Pistole wieder freibekommen, aber urplötzlich stemmte Wurzelsepp sich mit einem gewaltigen Ächzen hoch und wankte durchs Zimmer, trat dem Grafen gegen die Schläfe und entriss uns die Waffe so mühelos wie ein Erwachsener, der zwei zankenden Kindern das Spielzeug wegnimmt.
    Schnell kroch ich weg von Borelli, der sich den Kopf hielt und matt stöhnte, und blieb einen Moment keuchend auf dem Rücken liegen, um kurz zu verschnaufen. Die Verschnaufpause währte nicht lange. Noch ehe ich irgendwas tun konnte, war Wurzelsepp bereits um mich herumgestampft, zielte auf den Grafen, drückte ab und jagte ihm ohne mit der Wimper zu zucken zwei Kugeln in die sich aufbäumende Brust.
    Borelli heulte nicht auf und hielt sich auch nicht die blutenden Wunden. Auch schrie er nicht vor Schmerz. Er lag nur lang ausgestreckt da. Unbeweglich. Tot.
    Wurzelsepp schwenkte um, schwer atmend, und verfrachtete das Pfefferspray mit einem gezielten Tritt seines kaputten Beins in eine entlegene Zimmerecke. Dann richtete er die Pistole auf meine Stirn, unterdrückte ein Gähnen und ließ mir so Zeit für eine kurze kritische Selbstprüfung.
     
    Wenn ich über Michael Faulks schreibe, dann nutze ich gerne, wie ich es nenne, Schlüsselerkenntnismomente. Hin und wieder verlagere ich die Handlung in seinen Kopf, damit der geneigte Leser ihn denken hört und mitbekommt, was ihn antreibt und bewegt. Und wenn man das oft genug macht, und an den richtigen Stellen, dann kann es, wenn Faulks vor einer wichtigen Prüfung steht, passieren, dass er einen Schlüsselerkenntnismoment erlebt und irgendwas wirklich Wichtiges, Grundlegendes über sich selbst erfährt.
    Ich will mich ja nicht damit brüsten, aber ich glaube, es könnte durchaus als eine derartige Prüfung durchgehen, wenn jemand eine Waffe auf mich richtete, die kurz zuvor noch nonchalant auf einen am Boden liegenden Mann abgefeuert worden war, der nun bloß ein, zwei Meter von mir entfernt tot auf dem Boden lag. Was also erkannte ich? Überhaupt nichts. Mein Hirn war vollkommen leer. Mein Leben lief nicht in einer Serie von Bildern vor meinem inneren Auge ab. Ich flehte nicht um Vergebung meiner Sünden. Ich blinzelte bloß

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