Schwarze Schafe in Venedig
ich zu ihr. »Wenn ich stehen bleiben soll, sag mir einfach Bescheid.« Keine Reaktion. »Okay, dann komme ich jetzt.«
Ich habe schon Pflanzen schneller wachsen sehen. Es schien eine ganze Ewigkeit zu dauern, bis ich mich aufgerichtet hatte, gefolgt von einer weiteren Ewigkeit, bis ich auch nur in der Nähe des Stuhls war. Meine Taschenlampe hatte ich auf dem Boden liegen lassen. Ich wollte nicht, dass sie glaubte, ich könne sie als Waffe einzusetzen versuchen. »Ich setze mich jetzt hin«, verkündete ich.
Vollkommen ausdruckslos sah sie mir dabei zu. Keine Ahnung, ob ich sie mit meinen Kommentaren oder meiner Sportlichkeit beeindruckte; von ihr kam keine Regung. Wobei sie allerdings irgendwann den Arm sinken ließ und die Pistole seitlich auf dem Tisch ablegte, gleich neben dem gläsernen Aschenbecher und auf einem Häufchen Spielkarten, den Finger ganz leicht um den Abzug gekrümmt.
»Zigarette?«, fragte ich.
Ich schob meine Jacke auseinander, sodass das Futter zum Vorschein kam, und zog ganz behutsam mit den noch immer in Gummihandschuhen steckenden Fingern die Zigarettenschachtel heraus. Dann schüttelte ich eine aus der Packung, schob sie mir in den Mundwinkel und zündete sie mit dem Feuerzeug an. Ich zog einmal rasch, dann reichte ich ihr die brennende Zigarette.
Ihre Pupillen flackerten, als hingen sie an der glühenden Spitze, und mechanisch streckte sie die linke Hand danach aus, während die rechte an der Waffe blieb.
»Wo ist er hin?«, fragte ich und zündete mir selbst auch eine Zigarette an. »Remi, meine ich.«
Sie zuckte die Achseln und zog stockend an der Zigarette. Ihre Hand zitterte, genau wie meine. So viel zu den abgebrühten Schwerverbrechern.
»Sicher lässt er gerade die Leiche verschwinden«, mutmaßte ich. »Sah aus, als hätte er das nicht zum ersten Mal gemacht.«
Sie pustete den Rauch durch die gekräuselten Lippen, und ihr Gesicht verschwand hinter den Nebelschwaden.
»Was macht er mit Borelli? Wirft er ihn in einen Kanal? Versenkt er ihn in der Lagune?«
»Ja, ich glaube schon.« Ihre Stimme klang weit weg und sehr schwach, wie ein Wispern ganz tief aus einem unterirdischen Bunker. Mir war das gleich. Ich war bloß froh, sie zu hören.
»Hm«, brummte ich. »Und wenn ihn jemand sieht?«
Sie zuckte die Achseln. »Es ist schon spät.«
Ich nickte, als klänge das vollkommen logisch, dann steckte ich mir die Zigarette in den Mund. Aber sie hatte Recht. Die Uhr hinter ihr zeigte drei. Auf dem Weg zum Buchladen war mir, soweit ich mich erinnern konnte, niemand begegnet. Vielleicht hatte Remi ja auch Glück.
»Das mit deinem Onkel tut mir leid«, murmelte ich, und mit meinem Seufzen stieg ein Rauchwölkchen an die Decke.
Sie klemmte die Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen und fuchtelte mit dem glühenden Ende herum, wobei sie mich anvisierte wie ein Dartspieler, der die Zielscheibe fixiert. »Du hast ihn nicht umgebracht«, stellte sie fest.
»Deinen Onkel?«
Sie sah mich durchdringend an und schüttelte den Kopf, als wolle sie die Benommenheit abschütteln, die sie in ihren Klauen hielt. »Borelli. Ich habe dir doch gesagt, dass er sterben muss. Dass er gefährlich ist.«
»Was du nicht sagst.« Mit der Hand fuhr ich mir an den Hinterkopf und betastete vorsichtig die Stelle, an der es am meisten wehtat. Als ich die Finger wieder wegnahm, war mein Handschuh blutverschmiert. Die Wunde fühlte sich wie ausgefranst und beängstigend tief an. Urplötzlich hatte ich das fiese Bild von mit Hirnmasse verklebten Haaren vor Augen. Manchmal kann eine blühende Fantasie auch eine echte Bürde sein.
Graziella hatte mich nicht gefragt, wie es kam, dass ich mit Borelli in ihrer Wohnung gewesen war. Vielleicht nahm sie an, er habe mich überwältigt und mich dazu gezwungen, mit ihm hierherzukommen, nachdem ich alles ausgeplaudert hatte. Das wäre doch irgendwie logisch, dachte ich, aber die Wahrheit war nicht annähernd so schmeichelhaft. Wir hatten ihm Graziellas Namen genannt. Wir hatten ihm gesagt, dass sie ihn umbringen lassen wollte. Und kaum war er aus der leerstehenden Wohnung geflohen, war er hierhergekommen, um sich zu rächen. Zuerst hatte er ihren Onkel umgebracht, und dann hatte er gewartet, bis sie aus dem Casino zurückkamen.
Die Erklärung klang plausibel. Gut möglich, dass ich das eine oder andere übersehen hatte, aber Borelli konnte mir nicht mehr sagen, ob und wo ich mich irrte. Mein Versuch, ihm durch die Entführung das Leben zu retten, war spektakulär
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