Schwarze Schafe in Venedig
abhauen?«
»Das weiß ich nicht, Vic. Ich hatte gehofft, wir könnten am Bahnhof ein kleines Frühstück zu uns nehmen und dann später im Zug zu Mittag essen. Gut möglich, dass ich nicht allzu lange am Zielort unserer Reise bleiben werde, aber ich hoffe sehr, dass es mich da wenigstens eine Woche lang hält.«
»Das habe ich nicht gemeint«, giftete sie in einem Ton, der durchklingen ließ, dass ich sehr wohl wusste, worauf sie hinauswollte. Wusste ich ja auch.
Ich setzte mich auf das Fußende ihres Bettes, ein Bündel Kleider auf dem Schoß. »Muss das sein?«
»Auf jeden Fall. Weshalb ich meine Frage gern anders formulieren möchte. Was wird deiner Meinung nach wohl aus dem Grafen Borelli, wenn wir jetzt einfach sang- und klanglos verschwinden?«
»Schwer zu sagen.«
»Tatsächlich? Ich denke eher, es ist ganz einfach. Er wird ermordet.«
»Möglich.«
»Charlie, gib es doch zu.« Herrje. Gleich würde sie mich sicher auffordern, eine Hand auf die Bibel zu legen und zu schwören, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.
»Hör zu«, sagte ich zu ihr, »wenn es nach Graziella geht, wird er so oder so ermordet. Schließlich soll ich ihn umbringen, schon vergessen?«
Entnervt atmete Victoria aus, schlug energisch die Bettdecke zurück und schnappte sich ihren Morgenmantel. Wutentbrannt stopfte sie die Arme hinein und zog den Gürtel mit einem Ruck zusammen. Hätte mich nicht gewundert, wenn sie mir die Kordel am liebsten um den Hals gelegt hätte.
»Ist das wirklich dein Ernst?«, fragte sie.
»Hast du nicht die Koffer im Flur gesehen?«
Frustriert stierte Victoria mich an, dann stürmte sie aus dem Zimmer. Keine Frage, es wäre das Beste gewesen, einfach ihre Sachen zu packen und mich später mit ihrem kleinen Wutanfall herumzuschlagen. Aber als ich hörte, wie sie in der Küche die Schranktüren zuschlug und mit Geschirr herumklapperte, als wollte sie die Gesamtbevölkerung von Mestre wecken, kam ich zu dem Schluss, es wäre wohl besser, sie etwas zu beruhigen.
Also schlenderte ich nonchalant in die Küche, wo sie gerade den Teekessel aufsetzte.
»Victoria«, versuchte ich sie anzusprechen, doch sie zeigte mir bloß die kalte Schulter und drehte sich nicht mal um. Nein, stattdessen griff sie im Regal über dem Wasserkocher nach einer Tasse, zögerte kurz und nahm dann eine zweite heraus.
»Tee?«, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Ah, die klassische britische Patentlösung für jedes noch so vertrackte Dilemma. Man kocht einfach ein warmes Aufgussgetränk, und schon lösen sich sämtliche weltliche Probleme in Wohlgefallen auf.
»Tut mir leid, Vic«, sagte ich zu ihr. »Lass uns reden. Ich verspreche dir, ich benehme mich wie ein vernünftiger erwachsener Mensch.« Ich trat auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Komm, setz dich ins Wohnzimmer«, sagte ich. »Ich bringe gleich den Tee.«
Was ich dann auch machte, und weil ich die Spendierhosen anhatte, legte ich auch noch die letzten beiden Kekse auf Victorias Untertasse. Als ich hereinkam, saß sie auf dem Chesterfield. Ich stellte die Tassen auf den Überseekoffer, drehte meinen Schreibtischstuhl um, sodass er ihr gegenüberstand, und platzierte mich in halb aufrechter Position darauf, mit den Hacken meiner Turnschuhe auf dem Rand des Koffers. Victoria schien meine kleine freundschaftliche Geste mit den Keksen nicht gerade aus den Socken zu hauen, was sie allerdings nicht davon abhielt, beide unverzüglich wegzumümmeln.
»Also gut, ich verrate dir, was ich wirklich denke«, seufzte ich mit etwas schwerer Stimme. »Wenn wir zusehen, dass wir aus Venedig wegkommen, hat der Graf aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr lange zu leben. Graziella mag zwar einen klitzekleinen Sprung in der Schüssel haben, aber auf mich wirkt sie zu allem entschlossen. Und wenn es stimmt, was sie sagt, dann stehen ›mächtige‹ Leute hinter ihr.« Ich malte dabei kleine Gänsefüßchen in die Luft, auch wenn das völlig bescheuert aussah. »Offensichtlich verfügen sie über die nötigen Mittel, von Waffen und Sprengstoff mal ganz abgesehen. Man könnte also wohl sagen, die Tage des Herrn Grafen sind gezählt.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, entgegnete Victoria, wobei ihr kleine Kekskrümel aus dem Mund sprühten. »Und wenn wir abhauen, ohne irgendwas dagegen zu unternehmen, dann sind wir mitschuldig.«
Ich schaute sie zweifelnd an. Wobei ich hoffte, dass mein Gesichtsausdruck authentischer wirkte
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