Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
er nicht, was sie meinte. Doch dann hörte er es auch. Es war der hohle, einsame Klang einer Holzflöte. Aus der Richtung des zentralen Tempelgebäudes kam eine kleine Gestalt auf sie zu, den Tropenhelm weit ins Gesicht gezogen. Nur die Finger auf der Flöte waren unter dem Hut zu sehen.
»Hallo«, rief Ly. »Hallo.«
Der Mann blieb stehen. Sein Kopf schlackerte hin und her, wie bei einer Marionette, und er sagte: »Ach, Sie sind es«, so als ob er mit einem guten Bekannten spräche.
»Sind Sie schon länger hier am Tempel?«, fragte Ly.
Der Mann ignorierte die Frage und sagte stattdessen: »Sie haben den Mörder immer noch nicht gestellt. Wieso kommen Sie nicht voran?« Während er sprach, hob er den Kopf. Es war der Blinde, der ihm die Weissagung gemacht hatte. »… wachsam. Wenn das Licht schlecht ist, vermag sich auch ein böser als guter Geist zu tarnen.« Das waren seine Worte gewesen, dachte Ly.
»Papa, ich will hier weg.« Huong klammerte sich an seinen Arm und zerrte ihn von dem Mann weg. Sie zitterte wie ein nasser Hund.
»Sie sollten sich beeilen«, rief der Blinde. »Das arme,kleine Ding. Sie sind so nah dran, aber noch weit entfernt. So viele reden mit mir.«
»Wer redet mit Ihnen?«
»Sie wissen solche Dinge. Sie wissen alles. Sie liegen dicht gedrängt unter uns. Sie reden mit mir, ohne Stimme, wie es unter der Erde üblich ist.«
Ly stellte sich die Masse der Toten vor. Es musste ein ziemliches Stimmenwirrwarr sein, das der Blinde da hörte.
»Papa, ich will weg«, flüsterte Huong und zog an ihm.
»Geh’n Sie nur, geh’n Sie nur«, sagte der Blinde. »Aber passen Sie auf. Und beeilen Sie sich.« Damit wandte er sich ab. Seine Schritte waren schleppend. Trotzdem schien er sich mit rasanter Geschwindigkeit zu bewegen.
»Warten Sie«, rief Ly. Er wollte ihn nach dem Mörder fragen. Was hatte er zu verlieren? Doch die Dunkelheit hatte den Mann schon verschluckt. Er hörte nur noch die traurige Melodie seiner Flöte.
*
Die Gesänge der Mönche, die aus dem Hof heraufdrangen, hatten einen erdigen, warmen Klang. Sie saß im Halbdunkel, und trotz der Decke, die um ihre Schultern lag, fröstelte sie. Mit den Augen folgte sie den Rissen in der Wand. Was hatten sie mit Sinh gemacht? Sie wagte kaum noch zu schlafen, um in ihren Träumen nicht wieder und wieder ihre Schreie zu hören.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die kleine Luke in ihre Dachkammer. Jetzt würden gleich die Frauen der Umgebung eintreffen, wie jeden Morgen. Die Mönche würden ihre Sutren rezitieren und die Frauen das immer gleiche »nam mo a di da phat«, Ehre sei Buddha, singen.
Es klopfte leise. Hoa öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah hinaus. Es war eine Frau in einem braunen Kittel, wie viele sie bei Pagodenbesuchen trugen. Aber sie war jünger und hübscher als die meisten Pagodengängerinnen. Sie sagte, die Mönche hätten sie geschickt. Sie solle herunterkommen und an der Morgenzeremonie teilnehmen. Hoa schlüpfte in ihre Sandalen. Die Frau eilte voraus, und sie folgte ihr über den Gang und die Treppe hinunter. Sie waren fast im Hof angekommen, als jemand Hoa von hinten packte. Bevor sie schreien konnte, presste sich eine Hand auf ihren Mund. Sie sah nur die Füße des Angreifers. Er war barfuß. Er hob sie einfach hoch. Panik ergriff Hoa, sie trat nach hinten, schlug um sich. Die Frau eilte weiter und verschwand im Altarraum. Sie hatte sich nicht einmal umgeschaut.
Ihre Schwester Sinh hatte ihr so fest versprochen, dass alles gut werde. Sie hatte sie angelogen. Nie würde sich etwas ändern, nichts wurde gut.
Hoa wusste nicht, wo er sie hingebracht hatte. Sie hatte auf dem Rücksitz eines Autos gelegen. Aber sie war sich sicher, dass sich das Haus, in dem sie jetzt war, ganz in der Nähe des Flusses befand. Das Zimmer hatte kein Fenster, aber es war kühl und klamm. Und sie roch das schlammige Wasser, auf dem sie bis vor kurzem noch zu Hause gewesen war.
*
Am Morgen rief Ly als Erstes Thuy an. Er wollte ihr von dieser furchtbaren Nacht berichten, von seiner Angst um ihre Tochter und von seinen Zweifeln an seinem Job, an dem Fall und an sich selbst. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er wusste nicht, wie er ansetzen sollte. Thuy war schon ungeduldig, bevor er überhaupt etwasgesagt hatte. Im Hintergrund hörte er Männerstimmen, die Englisch sprachen. Jemand lachte.
»Du bist nie zu erreichen, und jetzt ist es gleich so dringend. Hast du mit Huong gesprochen?«, fragte Thuy.
»Nein, ich wollte
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