Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
hochzog.
Dann folgte nur noch Schluchzen.
»Huong. Was ist passiert? Wo bist du?«
»Papa, du musst kommen«, stieß sie hervor.
»Sag mir, wo du bist.«
»Am Tempel, oben am Westsee.«
Panik stieg in Ly auf. »Am Tay-Ho-Tempel? Verdammt, was machst du denn da draußen?«
»Papa. Komm schnell.« Dann brach die Verbindung ab. Ly rief zurück. Die Leitung war tot. Er rannte los. Draußen war es schon dunkel. Im Hof stieß er mit Ngoc zusammen, der um die Ecke bog. Grußlos sprintete Ly weiter.
Ausnahmsweise sprang sein Roller gleich beim ersten Startversuch an. Er trat das Gaspedal durch und jagte die Tran-Hung-Dao hinunter und dann links Richtung Altstadt. Bis zur Oper kam er gut durch. Von da an musste er sich im Slalom durch den Berufsverkehr schlängeln, den Finger immer auf der Hupe. Zweimal ignorierte er eine rote Ampel. Die Ngo-Quyen fuhr er ein Stück entgegen der Einbahnstraße. Die Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge blendeten ihn. In der Hang-Voi wich er auf denGehweg aus. Die Fahrt kam ihm endlos vor. Am Westsee wählte er die Abkürzung durch die Baustelle, die auch der russische Jeep in der Tatnacht genommen hatte. Hier war alles frei, ein einziges weiteres Motorrad fuhr hinter ihm. Es war eine Minsk. Das schwerfällige Knattern der russischen Maschine war unverkennbar. Es hatte fast etwas Bedrohliches. Ly gab Gas und hatte den schmalen Pfad zwischen zwei Baugruben fast hinter sich gelassen, als die Minsk gleichzog und ihn in die Seite drückte. Für den Bruchteil einer Sekunde schienen die beiden Fahrzeuge aneinanderzukleben. Dann rutschte das Hinterrad des Rollers in das Bauloch, und Ly konnte den Roller nicht mehr halten. Er sprang im Fallen ab und rollte sich auf dem Sand zur Seite. Der Roller schlug unter ihm auf ein Rohr. Der Minsk-Fahrer musste angehalten haben. Ly roch die Abgase der russischen Maschine und hörte sie neben sich. In dem Moment, in dem er aufschaute, schoss die Minsk mit aufheulendem Motor davon und verschwand. Das Nummernschild hatte er nicht erkennen können. Und von dem Fahrer konnte er nur mit Sicherheit sagen, dass es ein Mann gewesen war.
Ly stand auf, sein linkes Knie schmerzte. Er ignorierte es, so gut es ging, und sprintete zum Tempel. »Huong«, schrie es in seinem Inneren. »Huong.« Seine Lunge pfiff. Er war ewig nicht mehr so gelaufen.
Er fand sie unter dem großen Banyan. Sie hatte sich in einer Auswölbung des Stammes versteckt. Zusammengekauert, die Arme eng um ihre Beine geschlungen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihre Wangen waren aschfahl.
Der Tempelhof war verlassen. Ly zog seine Tochter zu sich heran und nahm sie in die Arme. Sie vergrub ihr Gesichtan seiner Brust. Ihr ganzer Körper bebte. Er hielt sie fest, bis sie sich allmählich entspannte.
»Was ist passiert, Schätzchen?«, fragte er, hob ihren Kopf am Kinn an und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
»Meine Honda«, flüsterte sie durch die Tränen. Ly schaute sich nach ihrem Roller um. Er stand nur wenige Meter neben ihnen, mit aufgeschlitzten Reifen. Neben der Honda lag in einer Lache aus Blut eine tote Ratte.
»Das ist nicht so schlimm«, versuchte er, Huong zu beruhigen, und merkte, wie seine eigene Anspannung stetig zunahm. Er hätte es für einen Dummejungenstreich gehalten. Zu einer anderen Gelegenheit, an einem anderen Ort. Nicht jedoch jetzt. Nicht hier.
»Das klebte auf dem Sattel«, flüsterte Huong, kaum in der Lage, einen klaren Satz zu bilden. Sie öffnete ihre Faust, mit der sie einen zerknüllten Zettel umklammert hatte. Ängstlich und abwartend sah sie ihren Vater an.
Das Papier war feucht. Ly faltete es auseinander und starrte auf das doppelte chinesische Glückszeichen.
»Hast du jemanden gesehen?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
»Nein.«
»Was hast du ganz alleine hier draußen gewollt?«
»Ich war verabredet.«
»Verabredet?«
»Na ja, mit einem Jungen. Son heißt er.« Ihr Gesicht war rot angelaufen. »Er hat mich versetzt.«
»Fährt er zufällig eine Minsk?«
»So ein altes russisches Motorrad?«, fragte sie und nickte gleichzeitig.
Ein kalter Schauer kroch Ly über den Rücken. Er drückte Huong. Diesmal, um sich selbst zu beruhigen.
»Woher kennst du ihn?«
»Ich habe ihn im Café neben meiner Schule getroffen.«
»Hast du ein Foto von ihm? Du fotografierst doch sonst immer alles mit deinem Handy.«
Sie schüttelte den Kopf. Dann spürte Ly, wie sie sich in seinen Armen erneut verkrampfte. »Was ist das?«, wisperte sie.
Erst wusste
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