Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Schloß. Willy stand noch immer wie gebannt an die Wand gelehnt und hörte, wie der große Volvo ansprang, dann zurücksetzte und vom Hof fuhr. Willy blieb eine Weile stehen, um zur Ruhe zu kommen. Dann hörte er draußen wieder ein Auto. Es war sein eigener Scorpio. Tomme kam mit einer Tüte herein.
»Wer war das?«
Er starrte Willy aus mißtrauischen Augen an. Willy dachte blitzschnell nach. Tomme durfte sich jetzt nicht aufregen.
»Her mit der Cola«, sagte er. »Ich bin schon halb verdurstet.«
Tomme reichte ihm eine Colaflasche und öffnete seine eigene.
»Der war von der Polizei«, sagte Willy langsam.
Tomme erbleichte. »Was wollte er?«
Willy schaute zu Tomme hinüber, mit einem raschen Blick, der sich dann wieder auf den Boden richtete. »Er hat nach dir gefragt. Oh, Scheiße, ich dachte schon, mein Herz bleibt stehen. Er hat meine Kommode angestarrt.«
»Die Kommode?« fragte Tomme verständnislos.
»Da liegt so allerlei drin. Wenn du verstehst, was ich meine«, sagte Willy.
»Aber warum hat er nach mir gefragt?« fragte Tomme ängstlich.
»Herrgott, du bist doch ihr Vetter«, sagte Willy. »Klar fragen die nach dir.«
Willy leerte die halbe Flasche auf einen Zug.
»Reg dich ab. Jetzt wird gearbeitet«, sagte er mit harter Stimme.
*
E LSA M ARIE M ORK war 1929 geboren, und sie fuhr noch immer. Den alljährlichen Sehtest bestand sie mit Glanz. Sie besaß einen Falkenblick, dem kein Sperling am Wegesrand entging, keine Wollmaus, kein Krümel. Mit ihrem Gehör war die Sache schon schwieriger. Aber sie war niemals eine gewesen, die gern zuhörte, und deshalb fiel ihr das kaum auf. Sie verstaute einen Kasten mit Putzgerätschaften hinten im Auto und fuhr zum Haus ihres Sohnes. Dieser Sohn, dachte sie, für den gibt es keine Hoffnung. Als junge Frau hatte sie sich eine Tochter gewünscht, vielleicht auch zwei, und als nächstes dann einen Sohn, aber so war es nicht gekommen. Plötzlich war ein wütender, schreiender Junge da gewesen. Der Vater starb, als Emil Johannes sieben war. Der Schock, sich als Mutter eines Wesens wiederzufinden, das sie nicht verstehen konnte, hielt sie davon ab, sich einen neuen Mann zu suchen oder weitere Kinder in die Welt zu setzen. Aber Emil Johannes war nun einmal ihr Sohn. Sie war keine, die sich vor ihren Pflichten drückte. Niemand sollte sie für unzuverlässig halten. Deshalb fuhr sie jede Woche zu Emil und kümmerte sich um dessen Haus. Um Möbel und Kleidungsstücke. Sie behielt durch ununterbrochenes Gerede Distanz zu ihm, während ihr Blick zehn Zentimeter über seinem schweren Kopf hing. Eine Antwort war ja doch nicht zu erwarten. Jetzt dachte sie an das Telefongespräch. Etwas hatte ihn aufgeregt, und eine vage Besorgnis wuchs in ihr heran, als sie auf die Schnellstraße abbog. Da sie jedes Gefühl haßte, das mit Sentimentalität zu tun hatte, mußte sie den Grund für seine Erregung aus ihm herauspressen und für Ordnung sorgen. Seit vierzig Jahren oder noch länger wartete sie nun schon darauf. Daß etwas passierte. Jetzt stählte sie sich. Sie haßte Tränen, Verzweiflung und Trauer, alles, was erwachsene, besonnene Menschen in weiche, zerfließende Wesen ohne Tatkraft verwandeln konnte. Wenn das passierte, wurde sie unsicher. Ihr Herz war umschlossen von einer fast versteinerten Schicht, doch dahinter konnte es heftig pochen, auch wenn ihre Augen knochentrocken blieben. Sie hatte keine Hoffnung mehr, auf gar nichts, abgesehen vom Tod. Sie hatte Freundinnen, doch die standen ihr nicht wirklich nahe. Sie waren eine Klagemauer, die sie ausnutzte, und sie ließ sich zum selben Zweck benutzen. Es kam vor, daß sie lachte, zumeist jedoch aus purer Schadenfreude. Sie half anderen gern aus, wie der Nachbarin Margot mit dem Oberschenkelhalsbruch, doch dabei setzte sie immer ihre Leidensmiene auf. Trotzdem dachte sie, wenn sie abends im Bett lag, an alle, die nicht soviel schafften wie sie. Und sie konnte nicht schlafen, wenn sie an Margots schmerzendes Bein dachte. Und jetzt machte sie sich Sorgen um Emil. Er hatte nein gesagt. Das sagte er immer wieder, aber sie kannte ihn gut genug, um zu ahnen, daß etwas passiert war. Im tiefsten Herzen vermutete sie, daß ihr Sohn sprechen konnte. Daß er einfach nicht wollte. Sie sagte das niemals laut, die anderen hätten ihr ja doch nicht geglaubt, und sie hielt es für eine persönliche Beleidigung, daß er sich für die Stummheit entschieden hatte. Ob er dumm war oder nicht, war für sie weniger interessant. Sie hatte
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