Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
keine Kraft mehr, um sich über ihn den Kopf zu zerbrechen. Er war Emil Johannes, und sie war an ihn gewöhnt. Sie dachte daran, daß sie in wenigen Jahren vielleicht schon unter der Erde liegen würde, während Emil durch sein Haus stapfte und alles über seinem Kopf zusammenwucherte. In Gedanken konnte sie sehen, wie Gras und Löwenzahn durch die Bodenbretter seiner Küche wuchsen. Vielleicht würde die Gemeinde ihm eine Haushaltshilfe spendieren. Wenn überhaupt irgendwer wagte, sich seiner mürrischen Gestalt zu nähern. Ihr schauderte, und ihr ging auf, daß sie schon September schrieben und daß vor dem ersten Frost ein gründliches Fensterputzen fällig war. Ansonsten konnte sie immer noch ein wenig Spiritus ins Putzwasser geben. Für solche Probleme hatte Elsa stets eine Lösung. Sie hielt vor dem Haus und stieg aus dem Wagen. Öffnete die Hecktür und nahm den Kasten heraus. Dann knallte sie energisch mit der Tür und ging auf Emils Eingang zu. Der war abgeschlossen. Eine eiskalte Irritation fuhr durch ihren zähen Körper, und sie klopfte so wütend gegen die Glasscheibe, daß die fast zerbrach.
»Na los, Emil«, rief sie wütend. »Ich hab keinen Nerv für solche Spielchen. Du bist nicht der einzige, der meine Hilfe braucht!«
Im Haus herrschte eine drückende Stille. Sie horchte und schlug noch einige Male gegen die verschlossene Tür. Sie war sehr wütend, als sie den Kasten auf die Treppe knallte und zum Wagen zurückging. Sollte er sich doch querstellen, dem war sie immer noch gewachsen. Natürlich hatte sie ihren eigenen Schlüssel zum Haus ihres Sohnes. Der lag im Handschuhfach, und nun zog sie ihn heraus. Entschlossen steckte sie den Schlüssel ins Schloß. Genauer gesagt, halbwegs ins Schloß. Etwas versperrte das Schlüsselloch. Sie stand verdutzt auf der obersten Stufe und drückte aus Leibeskräften gegen den Schlüssel. Aber der bewegte sich nicht. Und ihn wieder herauszuziehen, wollte ihr auch nicht gelingen. Was um alles in der Welt machte Emil denn bloß? Er hatte das Loch verklebt, der Schlüssel hing in einer zähen Masse fest. Elsas Gesicht wurde wutrot, und die Angst nahm ihre Wanderung durch ihren Körper auf. Sie kam aus der Magenregion und würde früher oder später auf das versteinerte Herz treffen. Sie lief wieder die Treppe hinunter, leerte den Kasten mit den Putzgeräten aus und stellte ihn unter das Küchenfenster. Dann stieg sie hinauf. Die Küche war leer. Aber das Licht brannte. Sie stellte den Kasten unter das andere Fenster, das zu Emils Schlafzimmer gehörte. Dort waren die Vorhänge vorgezogen. Nicht einmal ein Spalt war vorhanden, durch den sie hätte schauen können. Sie lief zurück zur Tür und sah sich das Dreirad an. Das stand wie immer unter der Plane. Also war er zu Hause. Emil ging nie zu Fuß. Er fühlte sich dann unsicher, ausgeliefert. Andere konnten ihn aufhalten oder ansprechen oder ihm Fragen stellen. Zum dritten und letzten Mal polterte sie gegen die Tür. Dann gab sie auf. Sie ließ den Kasten stehen, setzte sich ins Auto und drückte auf die Hupe. Aber Emil hatte Nachbarn, das fiel ihr nun ein, und die wollte sie nicht herbeilocken. Sie starrte auf das Küchenfenster, aber ihr Sohn ließ sich nicht blicken. Elsa hatte keine Geduld mehr. Sie stieg aus dem Auto und lief in die Garage. Suchte dort nach Werkzeug, fand aber nichts Brauchbares. Also fuhr sie nach Hause, stürzte in ihre eigene Wohnung und griff zum Telefon.
Als sie das erste Klingeln hörte, schnürte ihre Brust sich quälend zusammen. Vielleicht war er auf der Kellertreppe gefallen. Vielleicht lag er bewußtlos auf dem Boden. Er war sehr schwer. Nein, das ist Unsinn, dachte sie. Er hat das Schlüsselloch verklebt. Er will mich aussperren. Dann wurde der Hörer abgenommen. Er sagte nie etwas, er nahm nur ab, und ihr Wortstrom konnte losfließen. Und außer ihr rief niemand bei Emil an.
Als er sich meldete, spürte sie, wie die Erleichterung wie eine warme Welle durch ihren Körper schoß. Danach griff sie wieder zur Wut und fühlte sich dort gleich mehr zu Hause. Fast hätte sie ihm gedroht. Sie mußte doch saubermachen!
»Das mußt du begreifen, Emil!«
Staub und Wollmäuse, Ränder im Waschbecken, Krümel auf dem Boden, sie waren wie Dämonen, sie rissen und zerrten an ihr, und nie fand sie Ruhe, solange sie sie nicht entfernt hatte. Sie konnte nachts nicht schlafen, wenn seine Fensterscheiben schmutzig waren. Sie konnte nicht klar denken, wenn sein Sofa von Kartoffelchips-Resten
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