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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Plastiktüten. Die Polizei mußte entscheiden, was wichtig war. Menschen, die kaum je ein Wort gewechselt hatten, kamen einander nahe. Idas Verschwinden war wie ein Netz, das sich um sie zusammenschnürte. Es war ein gutes und ein beängstigendes Gefühl zugleich. Etwas, das sie verband. Gleichzeitig gab es einen Menschen, der die Wahrheit wußte. Sie stellten sich einen Mann vor, vielleicht auch zwei. Sie stellten sich vor, daß es sich schlimmstenfalls um Bekannte handeln könnte. Die natürlich krank waren. Gestört und gefährlich. Vielleicht auf der Jagd nach anderen Kindern. Ab und zu loderte die Wut in ihnen auf, bisweilen überwältigte sie die Angst. Aber vor allem hatten sie ein Gesprächsthema. Nicht das Wetter oder die Regierung. Sondern Idas Mörder. Die Erwachsenen versuchten sich zurückzuhalten, wenn die Kinder in der Nähe waren, aber das gelang ihnen nicht immer. Diese Sache füllte sie ganz und gar aus, schlug ihnen aus Radio und Fernsehen und Zeitungen entgegen. Wenn die Kinder in die Schule kamen, machten die Lehrer damit weiter. Sie konnten nicht davor weglaufen und wollten das auch gar nicht. Sie konnten sich kaum an das Leben vor dieser grauenhaften Erschütterung erinnern.
    Marion Rix frühstückte. Sie steckte den Löffel ins Marmeladenglas und rührte vorsichtig die Himbeeren um. Alles ging so langsam. Sie war anderswo mit ihren Gedanken, der Löffel bewegte sich ganz von selbst. Ruth musterte den gesenkten Kopf und verspürte einen dumpfen Schmerz. Was sollte sie sagen? Wieviel würde Marion ertragen können? Aber ich weiß doch nichts, fiel es ihr dann ein. Ich weiß nicht, was Ida passiert ist. Trotzdem konnte sie sich nicht verhalten, als sei nichts passiert. Es war wichtig, die Dinge in Worte zu fassen. Und Ruth hatte Worte. Sie hatte nur Angst davor, die zu benutzen.
    Marion spürte den Blick ihrer Mutter. Endlich war sie mit der Verteilung der Himbeeren zufrieden. Warum sieht sie mich nicht an, fragte Ruth sich. Warum wagen wir nicht, miteinander zu reden? Wir müßten schreien und uns aneinander festklammern. Dieses eine festhalten, daß wir, wir zwei, einander haben. Und das ist keine Selbstverständlichkeit. Ob so Marions Gedanken aussahen? Was mit Ida passiert ist, kann auch mir passieren? Marion kaute langsam und spülte das Brot mit Milch hinunter. Sie war ein molliges Mädchen mit dunklen Haaren, nicht schmächtig und schmalschultrig wie Tomme. Sie hatte eigentlich große Ähnlichkeit mit Helga.
    Ruth schaute in das Gesicht ihrer Tochter. Die Haare wellten sich und fielen weich zu beiden Seiten der weißen Stirn herunter. Ihr eines Auge litt an einer Muskelschwäche, und deshalb schielte Marion ein wenig. Sie wollte aber keine Brille aufsetzen.
    »Wie ist das eigentlich, Marion«, sagte Ruth vorsichtig. »Sprecht ihr in der Schule viel über Ida?«
    Die Tochter hörte auf zu kauen.
    »Jetzt nicht mehr so sehr«, sagte sie leise.
    »Aber ihr denkt daran?«
    Marion nickte zur Tischplatte hin.
    »Und die Lehrer? Was sagen die?«
    »Einige reden viel darüber. Andere sagen nichts.«
    »Aber was denkst du? Möchtest du lieber nicht über Ida sprechen? Oder würdest du gern sehr viel reden? Wenn du dir das aussuchen könntest?«
    Marion überlegte. Ihr Gesicht rötete sich vor Verlegenheit.
    »Weiß nicht«, sagte sie.
    »Aber wenn ich dich frage, was du glaubst«, sagte Ruth. »Über das, was passiert ist? Was antwortest du da?«
    Marion zögerte lange. Ruth wagte fast nicht zu atmen, aus Angst, die Tochter damit am Reden zu hindern.
    »Ich glaube, sie ist tot«, sagte Marion leise. Sie klang so schuldbewußt, daß Ruths Herz sich zusammenzog.
    »Das glaube ich auch«, erwiderte sie.
    Jetzt war es gesagt. Das, was alle nur zu gut wußten. Alle außer Helga, dachte Ruth. Helga mußte hoffen, sonst würde ihr Körper zusammenbrechen, und alle ihre Knochen würden zerfallen. Ihr Blut würde stehenbleiben, ihre Lunge sich nicht mehr öffnen. Sie würde wie ein Sack voller zerstoßener Knochen zu Boden sinken. Ruth keuchte angesichts dieser Gedanken auf. Sie hatte es so deutlich vor sich gesehen und glaubte, die Arme um ihren Leib schlingen zu müssen, um ihre Innereien festzuhalten. Die wollten sich aus ihrer Verankerung lösen, fürchtete sie, und sich unten in ihrem Körper sammeln. Nur das Herz allein würde hängenbleiben und schwer schlagen.
    »Ich hab so ein schlechtes Gewissen«, sagte Marion. »Denn das ist doch fast so, als ob ich sie aufgegeben hätte. Und das habe ich doch

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