Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
nicht. Aber es dauert schon so lange. Und sie haben überall gesucht.« Sie schob den Teller weg und senkte den Kopf. Die Haare verbargen ihr Gesicht.
»Aber eigentlich habe ich ja nicht aufgegeben«, sagte sie. »Abends, wenn ich schlafengehe, habe ich nicht aufgegeben. Aber dann werde ich wach, und es wird wieder hell, und sie ist nicht gefunden worden. Und dann glaube ich, daß sie tot ist.«
»Ja«, sage Ruth. »Denn wir hoffen, daß ein Wunder geschieht, während wir schlafen. Daß andere die Sache übernehmen, während wir uns ausruhen, und ganz schnell alles in Ordnung bringen. Aber das passiert nicht.«
Marion zog den Teller wieder zu sich heran. Ruth betrachtete ihre runden Wangen und spürte, wie die Liebe ihre Brust zum Bersten dehnte. Diese Liebe war so groß, daß sie vor Verzweiflung hätte vergehen können, wenn sie an Helga dachte. Wenn sie dieses Kind verlöre, würde ihr doch immer noch eins bleiben. Aber Helga hatte jetzt weder Mann noch Kind. Sie hatte nur ihren eigenen rastlosen Körper.
»Tomme weint nachts«, sagte Marion plötzlich.
Ruth riß die Augen auf. Was hatte das Kind da gesagt? Tomme, der achtzehnjährige Tomme, weinte nachts?
»Aber warum denn?« rutschte es ihr heraus.
Marion zuckte mit den Schultern. »Ich kann ihn durch die Wand hören. Aber ich will ihn nicht fragen.«
Sie frühstückte zu Ende und ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Dann kam sie wieder zum Vorschein, zog ihre Jeansjacke an und griff zur Schultasche. Ruth blieb am Tisch sitzen und dachte nach. Hatte sie ihren Sohn denn so falsch eingeschätzt? War er im Grunde eine empfindsame Seele, die sich hinter einem gleichgültigen Äußeren versteckte? Sie wäre sicher nicht die erste, die sich so irrte. Aber etwas störte sie; sie wußte nicht, was. Es gab da eine Tiefe, zu der sie keinen Zugang bekam. Oder ihn nicht wagte. In diesem Moment hörte sie Tomme die Treppe herunterkommen. Sie sprang auf, um zum Abschied Marions Schulter zu streicheln. Das mußte sie immer, diese letzte Berührung würde von jetzt an den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Wenn sie sie vergaß, würde sie Marion verlieren. Sie versuchte, diese seltsame Folge der Angst zu verstehen, und beschloß, sich selbst gegenüber Nachsicht walten zu lassen. Es herrschte schließlich Ausnahmezustand.
»Du klingelst doch bei Helene, nicht wahr?«
Marion nickte.
»Ihr müßt immer zu zweit gehen. Das dürft ihr ja nicht vergessen.«
»Das tun wir auch nicht«, sagte Marion ernsthaft.
»Wenn Helene irgendwann krank ist, kommst du wieder nach Hause, und dann fahre ich dich, ja?«
»Ja«, sagte Marion. »Kann ich jetzt gehen?«
Sie verschwand. Wurde auf der Straße immer kleiner, so, wie Ida immer kleiner geworden war, von Helgas Fenster aus gesehen. Tomme kam aus dem Badezimmer. Ruth ging zum Tisch und machte sich an Brot und Aufschnitt zu schaffen.
Er setzte sich wortlos und griff zur Milch. Wieder trank er direkt aus dem Karton, aber diesmal wies sie ihn nicht zurecht. Sie griff in den Kühlschrank und holte die Pausenbrote heraus, die sie ihm geschmiert hatte, fürsorglich, am Vorabend. Etwas zu trinken kaufte er sich in der Schule. Es war ihr nicht recht, daß er Cola zum Essen trank, aber sie beschloß, das als Nebensache abzutun. Jungen Menschen konnte soviel passieren. Es gab so viele Versuchungen, so viele Schwierigkeiten. Konnte jemand sie leiden, wollte jemand mit ihnen zusammensein? Würde er eine Freundin finden, ein Haus, eine Arbeit?
Sie legte die Brote neben ihn und stupste freundlich seine Schulter an. Sie wollte wissen, ob Marion die Wahrheit gesagt hatte, ob er nachts weinte. Er reagierte nicht auf ihre Berührung.
»Kommst du gleich nach der Schule nach Hause?« fragte sie ganz nebenbei. Da der Wagen bei Willy war, mußte er mit dem Bus zur Schule fahren, und das paßte ihm nicht.
»Schau kurz bei Willy vorbei«, sagte er gleichgültig.
»Schon wieder? Du machst fast nie mehr Hausaufgaben.«
Dann bereute sie diesen Vorwurf. Im Grunde kam er in der Schule gut mit, und sie fand sich schrecklich, wenn sie ihm so zusetzte. Vor allem nach dem, was passiert war.
»Wir wollen fertig werden«, sagte er. »Ich kapier gar nicht, daß ich jemals ohne diese Karre leben konnte.«
Er strich Butter auf ein Brot, kam aber nicht weiter. Er verteilte die Butter sehr sorgfältig und kratzte sie dann wieder ab.
»Hast du inzwischen Bjørn angerufen?« fragte sie.
Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Das
Weitere Kostenlose Bücher