Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
unten.
»Ja, setzen Sie sich doch einfach ans Pult«, sagte Grethe Mørk. »Ich gehe so lange nach hinten.« Sie verschwand im hinteren Teil der Klasse.
Sejer schaute zum Platz der Lehrerin hinüber. Er hatte keine Lust, dort oben zu sitzen. Also suchte er sich einen freien Stuhl, stellte ihn zwischen die Tischreihen und setzte sich mitten in die Runde.
»Warum hast du keine Uniform an?« fragte ein kühner junger Mann. Dann fiel ihm ein, daß er sich nicht gemeldet hatte. Seine Hand jagte nach oben, sank wieder herab, und einige Kinder kicherten.
Sejer blickte den Jungen an. »Ich bin schon so lange bei der Polizei, daß ich das nicht mehr nötig habe.«
Diese Antwort konnten die Kinder offenbar nicht verstehen. Daß jemand eine Polizeiuniform tragen durfte und dann freiwillig darauf verzichtete. Sejer begriff, daß sie eine genauere Erklärung brauchten.
»Diese Uniform ist sehr warm«, sagte er. »Und die Hemden kratzen.«
Wieder kicherten die Kinder.
»Ich heiße Konrad Sejer«, sagte er. »Und Ida ist mir nie begegnet. Ihre Mutter sagt, daß sie ein sehr gesprächiges und lebhaftes Mädchen ist.«
»Ich bin ihre beste Freundin«, sagte ein kleines Mädchen mit rotem Pullover. »Ich heiße Kjersti.«
Diese Mitteilung hätte fast zu einer Diskussion geführt, denn zwei andere Mädchen sahen sie an und schienen widersprechen zu wollen.
»Konrad?« fragte ein kräftiger kleiner Bursche und fuchtelte eifrig mit der Hand.
»Ja«, sagte Sejer.
»Werdet ihr den Fluß nach Ida absuchen?«
»Auf jeden Fall«, sagte Sejer. »Aber das ist schwierig. Der Fluß ist sehr tief und breit und hat eine starke Strömung.«
»Und deshalb kann Ida weit weggetrieben werden, nicht wahr?«
Sejer dachte kurz nach.
»Wir wissen nicht, ob Ida in den Fluß gefallen ist«, sagte er.
»Mein Vater sagt das aber«, erklärte der Junge.
»Ach was?« fragte Sejer und lächelte. »Ist er sich da ganz sicher?«
Jetzt verstummte der Junge. »Er sagt, daß sie in den Fluß gefallen sein muß. Wo ihr sie an Land nicht finden könnt.«
»Ich hoffe, daß wir Ida finden«, sagte Sejer. »Und eigentlich bin ich mir da sogar ziemlich sicher.«
»Warum bist du dir so sicher?« fragte ein Mädchen.
»Weil das fast immer passiert.«
Idas Lehrerin hinten in der Klasse behielt alles im Auge. Alle hatten Fragen, alle hatten eine Erinnerung an Ida oder ein gemeinsames Erlebnis. Alle wollten sie am besten gekannt haben. Immer wieder schauten sie zu dem leeren Tisch hinüber. Sie haben es im Grunde noch nicht verstanden, dachte Sejer. Es ist ja auch erst ein paar Tage her. Sie begreifen nicht, daß der Tisch bis zum Frühling leer sein wird. Und wenn er dann wieder besetzt wird, dann nur, weil der nächste Jahrgang nachrückt.
Er sprach die ganze Stunde mit ihnen. Er bat sie, nicht allein zur Schule und von der Schule nach Hause zu gehen. Sie sagten: Wir nehmen den Bus. Oder Mama und Papa fahren uns. Er sagte, das sei gut. Er fragte, ob Ida in der Zeit vor ihrem Verschwinden irgend etwas Besonderes erwähnt habe. Ob sie sich anders verhalten habe als sonst. Die Kinder dachten sorgfältig nach, ehe sie antworteten. Er sagte: Gut, daß ihr euch das erst überlegt. Ein Mädchen wollte wissen, ob Ida einen Stein auf dem Friedhof bekommen könne, auch wenn sie nie gefunden würde.
»Das will ich ja wohl meinen«, sagte Sejer. »Aber so lange wir sie nicht finden, haben wir ja noch Hoffnung. Es verschwinden so oft Leute«, erklärte er, »und sehr viele tauchen dann doch wieder auf.«
»Auch Kinder?« fragte ein kleiner Junge.
Sejer schwieg. Nein, dachte er. Kinder nicht.
»Frau Mørk hat sich heute feingemacht«, behauptete ein kleiner Wicht. Die Lehrerin lief tiefrot an.
»Schön, daß ihr eine Kerze angezündet habt«, sagte Sejer.
Abteilungsleiter Holthemann schaute ihn über den Tisch hinweg an.
»Die Bodenverhältnisse im Fluß sind ziemlich schwierig«, sagte er. »Vor allem auf dem letzten Teilstück vor dem Fjord. Die Taucher sind nicht gerade optimistisch. Da könnten sie auch in einem Schwimmbecken eine Kontaktlinse suchen«, fügte er düster hinzu.
Er stand auf und trat vor die Karte an der Wand. So wie die Stadt darauf dargestellt war, ähnelte sie einer entzündeten Wunde. Der Fluß zog sich wie ein Schnitt durch die Landschaft, und die Bebauung klebte gelb am Ufer.
»Ida wollte eine Strecke von vier Kilometern fahren. Wo sollten wir anfangen?«
»Da, wo die Straße unten am Ufer vorbeiführt«, sagte Sejer. »Da, wo
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