Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Mädchen an, ein wildfremdes Mädchen mit verschlossenem Gesicht, das den Fahrradlenker mit beiden Händen packte und das Rad aus dem Ständer riß. Ein Nakamura. Sie schob es auf die Straße und schwang ein Bein darüber. Wie Ida es getan hatte. Rasch und selbstsicher.
»Nein!« schrie Helga. Sie fing an zu laufen. Wollte den Gepäckträger packen und das Rad festhalten, doch das gelang ihr nicht. Das Mädchen schaute sie verwirrt an und fuhr so schnell sie konnte los. Helga rannte keuchend hinterher. Sie war nicht daran gewöhnt, sie war schwerfällig und unbeholfen.
»Nein! Warte!«
Das Mädchen fuhr noch schneller. Ihre dünnen Beine strampelten verzweifelt. Helga fiel zurück. Sie blieb stehen, stürzte zum Wagen und sprang hinein. Drehte den Schlüssel um, ließ den Motor aufheulen und setzte zurück. Ein scharfer Knall war zu hören, und sie hielt an. Ein Einkaufswagen war hinter das Auto gerollt, jetzt traf sie ihn mit der Heckpartie. Das war einfach zuviel für sie. Sie sprang aus dem Wagen und hielt Ausschau nach dem Rad. Es würde gleich hinter der Kurve verschwinden. Sie riß den Einkaufswagen beiseite und ließ ihn über den Asphalt rollen. Stieg wieder ein, ohne ihr Auto auf Schäden zu untersuchen. Fuhr auf die Straße hinaus. Entdeckte das Fahrrad, als es in eine Reihenhaussiedlung abbog. Diese Siedlung kannte sie, alle Straßen hatten Tiernamen, Wolf, Eichhörnchen, Hermelin. Jetzt konnte sie das Rad nicht mehr sehen. Sie hielt an und setzte zurück. Schaute in den Spiegel. Was war aus dem Mädchen geworden? Es war doch Idas Rad. Ein ganz neues Nakamura, gelb und blank. Sie ließ den Motor laufen und stieg aus dem Wagen. Blieb stehen und horchte. Aber sie hörte nur den Wind und Schritte hinter sich auf der Straße. Absätze, die mit scharfem Klappern über den Asphalt gingen. Eine Frau mit Einkaufstüten kam auf sie zu. Helga lief ihr entgegen.
»Entschuldigung«, sagte sie hektisch. »Kennen Sie ein rothaariges Mädchen, das hier in der Gegend wohnt? Zehn, zwölf Jahre alt?«
Die Frau musterte Helga und zögerte.
»Äh, rothaarig? Ja, vielleicht.«
»Ich muß mit ihr sprechen.«
Die Frau wurde unsicher. Helga sah wild aus, ihre Augen loderten.
»Sprechen?«
»Ja. Es ist wichtig!«
Helga konnte sich nicht beherrschen, sie packte die Jacke der Frau und zog daran.
Die Frau wich zurück, um sich Helgas Zugriff zu entziehen. »In der Røyskattlia wohnt ein Mädchen«, sagte sie dann. »Im letzten Haus. Sie hat sehr rote Haare.«
Sie riß sich los und verschwand mit schnellen Schritten. Helga setzte sich wieder ins Auto. Glitt im ersten Gang langsam die Straße hinunter. Hielt an der Kreuzung. Sah den Straßennamen Røyskattlia, sah das letzte Haus. Es war fast schwarz gestrichen. Sie blieb noch ein wenig im Wagen sitzen und hatte nur diesen einen Gedanken. Daß sie das Fahrrad nach Hause holen wollte. Es sollte auf dem Hof stehen, wie immer. Dann wendete sie, verließ die Wohnsiedlung und fuhr so schnell wie möglich nach Hause. Keine Ida saß auf dem Sofa und las. Sie selbst ließ sich in einen Sessel sinken und wartete auf die Dunkelheit.
Die machte sich gegen zehn Uhr langsam bemerkbar. Wieder fuhr Helga in Richtung Joker. Der Laden war geschlossen, der Parkplatz leer. Sie wollte das letzte Stück zu Fuß gehen. Helga trug eine dunkle Jacke, und da auch ihre Haare dunkel waren, war sie von den Häusern aus kaum zu sehen. Die Straßen waren nur spärlich beleuchtet. Sie fand das Haus wieder und blieb einige Meter davor stehen, um auf den dunklen Hofplatz zu starren. Hinter dem Küchenfenster brannte ein scharfes Licht. Sie schlich sich auf einen schmalen Rasenstreifen und verschwand hinter dem Haus. An der Wand lehnten zwei Räder, die von der Straße her nicht zu sehen waren. Ein großes schwarzes Herrenrad und Idas kleines gelbes. Sie ging hin und streichelte den Sattel. Neugierig schaute sie zum Haus hinüber. Wer hier wohl wohnte? Würden sie sie hören, wenn sie das Rad über den Kiesweg schob? Vorsichtig zog sie am Lenker. Der hatte sich in dem des anderen Rades verhakt. Sie fuhr zusammen, als der Lenker gegen die Wand schlug. Helga hielt den Atem an. Hatten sie das gehört? Nervös schob sie das Fahrrad weiter. Sie ging durch den Garten. Die Reifen rollten lautlos durch das Gras.
Vor dem Laden brannte Licht. Helga sah sich das Rad jetzt genauer an. Es war Idas. Sie öffnete den Kofferraum ihres Autos und versuchte, das Rad hineinzuheben. Es war schwer, und die Hälfte hing
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