Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
ein Auto fahren kann. Hier«, sagte er und zeigte auf die Karte. »Bei der alten Gießerei. Und hier führt ein Karrenweg zu einer Angelstelle. Das wäre ein Anfang. Auf dieser Strecke ist das Ufer dicht bewachsen. Sie könnte darin hängengeblieben sein.«
»Haben die Suchmannschaften da schon überall nachgesehen?«
»Mehrere Male«, sagte Sejer. »Alle Häuser und Scheunen sind auf den Kopf gestellt worden. Und auch die Reste der alten Gießerei. Sie haben sogar die Steine umgedreht«, sagte er.
In Gedanken versunken blieb er stehen. Vor seinem inneren Auge tauchte eine Straße auf. »Wie lange braucht denn ein Mann im Auto, um neben Ida auf dem Rad zu bremsen, sie zum Anhalten zu bringen, kurz mit ihr zu reden, auszusteigen, sie eventuell mit einem Schlag auszuschalten, sie ins Auto zu werfen, bei dem es sich wohl um einen Lieferwagen oder so was handeln muß, dann das Fahrrad hineinzuladen und loszufahren?«
Holthemann schaute auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. Dann schloß er die Augen.
»Das könnte er vermutlich in weniger als einer Minute schaffen«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Vielleicht stand der Wagen schon am Straßenrand. Vielleicht hat er sie im Rückspiegel gesehen. Er kann sich vorbereitet haben. So daß das Manöver, als es dann soweit war, gut durchdacht war.«
Sejer nickte. »Oder er hat sie angehalten und mit ihr geredet. Während er auf eine Nische im Verkehr wartete.«
»Dann hätte jemand sie gesehen. Und um sechs Uhr abends ist da nicht viel los«, sagte Holthemann. Er zeigte auf die Karte. »Hier liegt Holthesletta. An der Strecke gibt es nicht ein einziges Haus. Dieses Wegstück ist neunhundert Meter lang und biegt hier ab, bei der Kirche von Glassverket. Und ab da nimmt die Bebauung wieder zu. Irgendwas ist mit dieser Straße«, behauptete Holthemann. »Ich stelle mir vor, daß er sie hier aufgelesen hat.«
»Aber die ist doch so übersichtlich«, sagte Sejer.
»Übersichtlich für den Täter«, erklärte der Abteilungsleiter. »Plötzlich ist er allein auf der Straße. So weit das Auge reicht kein Haus, kein Auto. Und dann sieht er Ida auf dem Fahrrad.«
»Er muß aber auch gesehen haben, wer auf dem Rad saß«, fügte Sejer hinzu. »Damit er sehen konnte, daß es sich um ein kleines Mädchen handelte, mußte sie schon ziemlich nahe gekommen sein, ehe er sich entscheiden konnte, ob er zuschlagen wollte. Vielleicht ist er zuerst an ihr vorbeigefahren und hat dann kehrtgemacht.«
»Haben wir alle Angehörigen vernommen?« fragte Holthemann.
»Nicht offiziell«, sagte Sejer. »Aber das passiert noch. Idas Onkel beteiligen sich beide an der Suchaktion. Skarre hat mit ihrem Vetter gesprochen. Bisher haben wir bei Idas Familie nichts gefunden, was unser Interesse wecken könnte. Wir haben die meisten Häuser an der Strecke besucht. Die Leute sind sehr hilfsbereit, aber niemand hat etwas zu erzählen.«
»Und es sind auch keine Gerüchte im Umlauf?«
»Nicht daß ich wüßte. Aber wenn wir sie nicht bald finden, dann ändert sich das sicher.«
Helga hatte eine Idee. Sie wollte etwas ganz Normales tun. Viele verzweifelte Tage waren vergangen. Wenn sie ein normales Leben führte, würde alles so werden wie früher. Wenn sie das Haus verließ, um Milch und Brot zu kaufen, würde Ida während ihrer Abwesenheit auftauchen. Würde das Telefon klingeln. Das alles geschah nicht, weil sie eben so verzweifelt wartete. Deshalb hatte sie ihren Mantel angezogen und eine Einkaufsliste geschrieben. Wie sie es immer machte. Sie schloß die Haustür nicht ab. Ida konnte einfach ins Haus spazieren und sich aufs Sofa setzen. Sie konnte Comics lesen, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Die Comics lagen in einem Stapel auf dem Tisch. Und dann hätte alles eine Wendung zum Besseren genommen. Dann würde Ida auf sie warten.
Sie hielt vor dem Laden. Blieb einen Moment im Wagen sitzen und starrte aus dem Fenster. Dann öffnete sie die Tür und setzte einen Fuß auf den Asphalt. Sie betrachtete ihren dicken Knöchel und ihren braunen Schuh. Hob den Blick. Der glitt zum Ladeneingang. Und im nächsten Moment erstarrte sie. Neben dem Eingang stand ein gelbes Rad. Helga zitterte. Ihr ganzer Körper bebte. Sie sprang aus dem Wagen und lief auf den Fahrradständer zu. Eine plötzliche Hitzewelle jagte durch sie hindurch. Vage registrierte sie, daß die Tür geöffnet wurde und eine Gestalt aus dem Laden trat. Sie erreichten das Fahrrad gleichzeitig. Ungläubig starrte Helga das rothaarige
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