Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Levis. Der Vogel preßte sich gegen die Gitterstäbe und brauste heftig mit dem Gefieder. Auf diese Weise sah er größer aus. Skarre wußte nicht so recht, was das bedeuten sollte. Er schob einen Finger zwischen die Käfigstäbe, um dem Vogel den Kopf zu streicheln. Der Vogel bot sich entgegenkommend an, und Skarre spürte den kleinen Vogelschädel unter den weichen Federn. Doch dann hörte er ein leises Klicken und verspürte einen scharfen Schmerz. Verdutzt riß er den Finger aus dem Käfig. Der Vogel wich blitzschnell zurück und starrte ihn fast boshaft an, fand Skarre. Ungläubig betrachtete er seine Wunde. An der Fingerspitze klaffte ein kreisrundes Loch. Langsam füllte es sich mit Blut. Er wandte sich ab und sah Emil an.
»Da hab ich was gelernt«, sagte Skarre und wischte sich die Stirn. »Er kann Fremde offenbar nicht leiden. Kann er Sie leiden?«
»Nein«, sagte Emil. Er starrte zu Boden. Vielleicht versteckte er ein Grinsen.
»Sie füttern ihn vielleicht nur?«
Emil wollte zurück in die Küche. Skarre starrte den Vogel an. Sein Finger pochte heftig.
»Hören Sie«, er ging hinter Emil her. »Sie haben nicht zufällig ein Pflaster im Haus?« fragte er und schwenkte seinen blutenden Finger. Natürlich hatte Emil Pflaster, er hatte sogar eine Packung bereits zugeschnittener. Er hielt ihm die Schachtel hin, und Skarre brauchte nur zuzugreifen.
»Pflaster darf niemals rund befestigt werden und schon gar nicht straff«, verkündete Skarre, das wußte er noch aus dem Erste-Hilfe-Kurs.
»Aber es muß eben sein. An einem Finger gibt es nicht viele Möglichkeiten.« Er hoffte auf ein Lächeln. Doch Emil zeigte keins.
»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte Skarre dann endlich. Er blickte Emil forschend ins Gesicht. War jetzt beim Ernst der Lage angelangt. Trotzdem dachte er, das hier müsse das falsche Haus sein. Der Schein müsse einfach trügen.
»Kennen Sie ein Mädchen namens Ida?« fragte er.
Von Emil kam keine Antwort. Nur ein niedergeschlagener Blick.
Skarre versuchte verzweifelt, weiterzukommen.
»War sie jemals hier im Haus?«
Noch immer keine Antwort. Wie wäre das auch möglich gewesen?
»Emil«, sagte Skarre eindringlich. »Emil Johannes. Hören Sie mir zu. Ida ist hier im Haus gewesen. Da bin ich mir ziemlich sicher. Wollen Sie das abstreiten?«
»Nein«, sagte Emil Johannes.
*
A LS S KARRE GEGANGEN war, wurde Emil von Unruhe erfaßt. Daß er geglaubt hatte, es zu schaffen, daß er es schaffen würde, nein, diese Vorstellung war unmöglich gewesen. Jetzt bereute er alles ganz schrecklich. Zugleich aber war es ein seltsames Gefühl, daß dieser Mann an seinem Tisch gesessen hatte. Er roch noch immer den Tabak. Die Schachtel mit dem Pflaster lag auf seinem Küchentisch. Wieder klingelte das Telefon. Er wollte aber nicht rangehen. Er stürzte aus dem Haus, ließ das Moped an und fuhr in Richtung Wasserfall. Es tat gut, auf dem Moped zu sitzen und zu fahren. Wenn er auf dem Moped saß, war er Herr der Lage. Es tat gut, sich am Lenker festzuhalten und den Wind im Gesicht zu spüren. Es war ein grauer Tag mit angenehmem Licht. Seine grüne Jacke stand offen. Schon bei der Kirche wechselte er auf die rechte Fahrspur über. Die würde bald ganz von selbst nach rechts verschwinden. Im September hatte es viel geregnet, der Wasserfall war groß und laut. Als er am Ufer stand, spürte er, wie das Brüllen der Wassermassen sich in seinem Körper fortpflanzte. Er hielt an und drehte den Motor aus, schob die Mütze nach hinten und ging die letzten Schritte zum Ufer. Kein Mensch war zu sehen. Alle waren jetzt bei der Arbeit. Auch Emil hatte einmal Arbeit gehabt, in einer Behindertenwerkstätte. Er hatte Schrauben und Muttern sortiert und in Schachteln verteilt. Das war leicht, aber langweilig gewesen, und er war miserabel bezahlt worden. Das wirkliche Problem aber waren die anderen gewesen, die dort arbeiteten. Er hatte nie zu ihnen gehört; sie waren alle wie Kinder gewesen. Und ich bin doch erwachsen, dachte Emil. Aber weil er nie sprach, schienen sie das zu vergessen. Er wollte lieber allein in seinem Haus sein, statt mit vielen anderen zusammen. Deshalb hatte er angefangen, die Schachteln zu verwechseln. Er hatte Schrauben und Muttern vermischt und zu viele hineingelegt. Und deshalb hatte er seine Arbeit verloren. Die Mutter war wütend gewesen, das wußte er noch. Für sie war es schrecklich, daß ihr Sohn von Rente lebte. Daß er niemals eine Frau finden würde, war das eine. Auch daß er
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