Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
ging Skarre ein Licht auf. Die Erkenntnis erfüllte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Freude. Es war der Schrei eines Vogels gewesen. Skarre lachte verlegen und ging ins Wohnzimmer hinüber. Und dort, vor dem Fenster, stand ein großer Vogelkäfig. Ziemlich schön, mit Messinggitter und schwarzen Beschlägen. Im Käfig saß ein grauer Vogel. Skarre versuchte, die Schultern zu senken. Seine Gedanken überschlugen sich. Sie hatten einen Mann mit einem Vogel gesucht. Und jetzt stand er hier, in Emil Johannes Morks Wohnzimmer, und starrte einen Papagei an. Einen hinreißenden Vogel von unscheinbarer Farbe. Abgesehen vom Schwanz. Der war rot.
»Du hast mir ja vielleicht Angst eingejagt«, sagte er in Richtung Käfig. Der Vogel klimperte mit seinen großen Augen und legte den Kopf schräg. Skarre konnte nicht fassen, daß ein so kleines Tier so laut schreien konnte.
»Kann er sprechen?« fragte er Emil.
Emil stand ein Stück hinter ihm. Er beobachtete Skarre mit großer Aufmerksamkeit, sagte aber nichts.
Skarre trat dichter an den Käfig heran. Er starrte den Vogel an und musterte den Käfigboden. Der war mit Zeitungen bedeckt, und darüber lag ein Gitterboden. Und an dem hafteten viele Federchen. Untergefieder, dachte er. Außer den weißen Federchen gab es Vogelkot, einige größere graue Federn und jede Menge Schalen, die Skarre als Erdnußschalen identifizierte. Einige Federn klebten an der Käfigwand. Er zupfte eine herunter. Sie war klebrig. Solche Federn hatten sie auch an Idas Decke gefunden. Er drehte sich zu Emil um.
»Das ist ein African Grey, nicht wahr? Wie heißt er?« fragte er neugierig.
Emil gab noch immer keine Antwort. Aber er nickte zum Käfig hinüber. Skarre entdeckte ein Namensschild aus Messing, das ganz unten an dem schwarzen Beschlag angebracht war. »Heinrich VIII«, las er.
»Heinrich«, flüsterte Skarre. In seinem Kopf drehte sich alles. Er war am Ziel! Hier, in diesem Haus, war Ida gewesen. Von diesem Vogel, der Heinrich hieß, stammte ihre rote Feder. So mußte es sein.
»Heinrich der Achte?« fragte er, jetzt lauter. »Das war doch dieser englische König, nicht wahr? Der, der all seinen Frauen den Kopf abgehackt hat?«
Ein wenig zu spät ging ihm auf, was er da wirklich gesagt hatte. Dieser Mann, der hinter ihm stand, konnte Idas Mörder sein. Skarre fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Er stand am Fenster, und der stumme Mann versperrte die Tür zur Küche und zum Flur. Er stand untätig da und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Starrte Skarre einfach nur an. Von englischen Königen hatte er wirklich keine Ahnung. Dann ging er zurück in die Küche. Skarre ließ seine Blicke rasch durch das kleine Wohnzimmer wandern. Er sah den Fernseher und die Sitzecke. Es gab einen altmodischen Tisch aus Teakholz. Das Sofa war grün und hatte geschwungene Beine. An der Wand hing ein bunter Wandteppich, sehr groß und oben mit einer schmiedeeisernen Leiste befestigt. Auf dem Boden lag ein Läufer aus Plastik. Links vom Käfig sah er eine Tür, die in ein anderes Zimmer führte, vielleicht ins Schlafzimmer. Auch diese Tür war zersplittert, als habe jemand mit einem harten Gegenstand darauf eingeschlagen. Skarre zitterte vor Aufregung, als er jetzt hinter Emil herging. Ganz ruhig, mahnte er sich. Jetzt mußt du vorsichtig sein. Er überlegte sich, daß sein Verhalten in den nächsten Minuten für den Ausgang des Falls entscheidend sein könnte. Zugleich kam es ihm unvorstellbar vor, daß dieser Mann einen Fluchtversuch unternehmen könnte. Er war wie am Boden festgewachsen, er schien zur Einrichtung zu gehören und immer schon hier gewesen zu sein. Er paßte zu der alten Teekanne oben auf dem Kühlschrank, die mit einer gehäkelten Wärmemütze überzogen war. Er paßte zu der gemusterten Tapete und der Deckenlampe mit ihrer aufgerollten Leitung. Emil saß jetzt am Küchentisch. Er starrte hinaus auf den Hof. Der Streifen wagen interessierte ihn. Er hatte nur selten die Gelegenheit, einen aus der Nähe zu sehen. Er hat eine seltsame Miene, dachte Skarre. Nicht leer, auch nicht abweisend, er schien sehr viele Gedanken zu haben. Vielleicht war es einfach schon zuviel für ihn, daß er überhaupt Besuch hatte. Und daß der Besuch eine Polizeiuniform trug. Zweimal wandte er sich um und betrachtete Skarres Jacke. Skarre nahm ihm gegenüber Platz. Eigentlich hatte er sofort auf der Wache anrufen wollen, aber er hatte das Gefühl, daß dieser Moment kostbar war und nie
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