Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
führe. Ich kann seinen Augen ansehen, daß er manchmal Angst hat, manchmal aufgeregt ist, sich manchmal gewaltig vorsieht. Er sieht nicht sonderlich schuldbewußt aus. Nicht wie ein Mann, der sich an anderen vergreift. Ich kann aber die Tatsache nicht übersehen, daß Ida ein entzückendes Kind war. Kann nicht übersehen, daß Emil stark ist. In uns allen wohnt Wut, wir alle kennen Begierden.
Hatte Emil Ida belästigt, hatte sie angefangen zu schreien, war er in Panik geraten? Was hatte er dem kleinen Körper angetan, um so schlimme innere Verletzungen hervorzurufen, daß sie daran gestorben war? Sejer blieb stehen, weil Kollberg stehengeblieben war. Er beschnüffelte etwas, das auf dem Boden lag. Es sah aus wie ein Spatz, der offenbar schon seit einer Weile tot war. Von oben sah er unversehrt aus, aber als Kollberg ihn mit der Schnauze umdrehte, entdeckte Sejer, daß das Tier schon halb verwest war. Unwillkürlich schob er den Vogel mit der Fußspitze in den Straßengraben. Er zog an der Leine und wollte weiter. Es ging auf Mitternacht zu. Er dachte an die stille Stunde, die er zu Hause vor dem Fenster verbracht hatte, in seinem guten Sessel, den Hund zu seinen Füßen. Und mit einem großzügigen Whisky. Diese Stunde, die er sich immer freischaufelte. Es war seit Jahren sein festes Ritual. Eine einzige, selbstgedrehte Zigarette. Eine sorgfältig ausgesuchte CD. Dann trank er langsam den Whisky und ließ sich davontragen. Ließ den Blick zu Elises Bild wandern. Dachte an sie, gute Gedanken. Was soll ich machen, fragte er sich plötzlich, wenn der Hund nicht mehr da ist und ich allein in dem leeren Zimmer sitze? Ich bin zu alt, um mir einen neuen zuzulegen. Sara, dachte er dann. Komm bald zurück. Hier ist es so still. Er sah Kollberg an, schuldbewußt. Hier gehe ich nun und mache mir Gedanken, als seist du schon nicht mehr, dachte er. Der Hund war so mager, wie man das bei älteren Hunden häufiger sieht, sein Fell war jetzt zu groß für ihn. Sejer ging langsam zurück. Blieb eine Weile im Wohnzimmer stehen, doch der Hund wollte zu seinem festen Platz neben dem Sessel zurück. Sejer spürte einen verzweifelten Schmerz in der Brust. Der Hund drehte steife, langsame Kreise um sich selbst. Dann sank er langsam zu Boden, ein wenig zitternd und unsicher. Zuerst mit den Hinterbeinen, dann mit den Vorderbeinen. Es war deutlich, daß es ihm wehtat, vom Stehen ins Liegen zu gelangen. Nach einem langwierigen und unbeholfenen Manöver lag er dann endlich. Als letztes senkte sich sein großer Kopf. Dann war ein unendlich tiefer Seufzer zu hören, als habe alle Luft seine Lunge verlassen.
Das geht nicht mehr so weiter, dachte Sejer. Und kehrte Kollberg den Rücken zu. Er brachte es nicht über sich, dem Hund in die Augen zu sehen.
*
E LSA M ORK BRAUCHTE sehr viel Kraft, um die Kontrolle über sich zu behalten. Sie hatte gegessen und geschlafen und war vielleicht in Gedanken alles noch einige Male durchgegangen. Sie war gesund und hielt sich gerade, doch das Ende ihres Lebens rückte näher. Darüber war sie sich im klaren. In ihrem tiefsten Herzen verfügte sie über ungeheure Redlichkeit. Aber jetzt kämpfte sie gegen den Untergang. Gegen die Verzweiflung, die der Verlust ihrer Ehre mit sich bringen würde. Sie schaute Sejer an, um sich davon zu überzeugen, daß er ihr wirklich glauben würde, wenn sie ihm die Wahrheit erzählte. Ob er es verstehen würde. Und wie weit er sie verurteilen würde. Als er mit dem Nachthemd in der Tüte vor ihrer Tür gestanden hatte, hatte sie schreckliche Angst gehabt. Hier war es jetzt anders. Nicht eine Sekunde lang hatte sie sich von ihm bedroht gefühlt.
»Sind Sie zu Emil ebenso freundlich wie zu mir?« fragte sie plötzlich. Gleich darauf lief sie rot an.
»Es ist leicht, freundlich zu Emil zu sein«, sagte Sejer. »Er ist ein überaus reizender Mann.«
Er war ganz ernst, als er das sagte. Sie merkte, daß sie ihm glaubte.
Elsa unterdrückte ein Schluchzen. Das sah so aus, als müsse sie etwas zu Großes etwas zu schnell hinunterschlucken. Weinen könnte sie später noch, ohne Zuschauer. Sie riß sich zusammen.
»Erzählen Sie mir von Emil«, sagte Sejer. »Gibt es irgend etwas, das ihn in Wut bringt?«
Sie schaute ihn lange an.
»Ja«, sagte sie bitter. »Wenn ich mit dem Besen komme. Aber wütend wird er dann eigentlich nicht. Sondern mürrisch. Begreift nicht, warum das sein muß.«
Sie dachte an ihren Sohn und fühlte sich hilflos. Weil Emil ihrem Zugriff entzogen war wie
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