Schwarze Stunde
erreichen werde. Eigentlich erreiche ich meine Ziele immer.«
»Das haben Sie sehr schön gesagt, Fiona«, lobt Corvin sie, »und ich drücke Ihnen die Daumen, dass Ihnen alle Ihre Vorhaben gelingen mögen.«
Ich versuche ihr triumphierendes Lächeln zu ignorieren, sie beugt sich jetzt über ihrem Tisch ganz weit nach vorn und strahlt ihn an. Lass die Finger von ihm . Corvins Augen wandern weiter durch den Raum, als Nächstes ruft er Matthias auf, der sich in Englisch sonst eher selten meldet, aber in seinem anderen Leistungsfach, Geschichte, ein Überflieger sein soll.
»Für mich bedeutet der Satz vor allem, mich politisch zu engagieren«, sagt er ein wenig stockend. »Nicht nur zuzusehen, was die Regierungen mit uns machen, sondern selber mitzumischen. Man kann so vieles verändern, wenn man will.«
»Auch das ist eine wichtige Aussage«, bestätigt Corvin. »Alena, Sie haben heute noch gar nichts gesagt. Wie denken Sie über den Satz, für den das Mädchen Ellie in der Kurzgeschichte selbst von ihrer Lehrerin verspottet worden ist?«
Alena räuspert sich. »Es ist ein schöner Satz«, antwortet sie. »Die Lehrerin hätte Ellie dafür loben statt verspotten sollen. Für mich bedeutet Leben in vollen Zügen vor allem Freundschaft und Liebe. Zum Beispiel zu jemandem zu stehen, mit dem es nicht immer einfach ist, sondern der auch seine Ecken und Kanten hat. Der Mist gebaut hat. Man sollte nicht gleich alles hinwerfen, nur weil eine Beziehung mal nicht so läuft, wie man es sich vorstellt. Wem man Freundschaft oder Liebe versprochen hat, zu dem sollte man vorbehaltlos stehen und immer ehrlich zu ihm sein. Und man sollte seine Freunde nicht hängen lassen.« Während sie redet, sieht sie mich die ganze Zeit von der Seite an, als spräche sie direkt zu mir statt zu Corvin.
»Genau«, ruft Oleg herein. »Und Sex ist wichtig. Ins Leben eintauchen heißt vor allem, in eine Frau eintauchen.«
»Typisch«, zischt Yuki. »Du musst wieder alles lächerlich machen. Werd mal erwachsen, Oleg.«
Oleg grinst und hebt seine Schultern, Corvin lacht und wendet sich Carla zu, obwohl sie sich nicht gemeldet hat. Als er sie aufruft, klappt sie hastig ihren Schreibblock zu, in den sie sich gerade vertieft hatte, Notizen schreibend oder einfach nur gedankenverloren vor sich hin kritzelnd. Sie errötet schon wieder, so schüchtern ist sie.
»Ich finde nichts dabei, wenn jemand vorsichtig mit dem Leben umgeht«, bemerkt sie mit leiser Stimme. »Es liegt nicht jedem, sich immer überall hineinzustürzen und mitzumischen. Leben kann auch bedeuten, still zu beobachten, vorsichtig auszuprobieren und sich anzustrengen. Sich an kleinen Dingen zu erfreuen. So nimmt man vieles wahr, was andere gar nicht sehen. Aber ich stimme mit Alena überein, dass Ellie einen sehr wertvollen Satz geschrieben hat und es nicht verdient, ausgelacht zu werden.«
Corvin nickt, dann wandern seine Augen zu mir. Er muss mich drannehmen, er weiß, dass ich in Englisch eine der Besten bin, bei Frau Bollmann rette ich oft die Stunde, abgesehen von Fiona. Mein Körper beginnt zu glühen, als Corvin meinen Namen nennt. Fieberhaft suche ich nach einer Antwort, schon jetzt merke ich, dass mich alle anstarren, während Corvins Blick auf mir ruht, mich streichelt, sein warmes Lächeln mich umfängt.
»Valerie«, sagt er. Liebe in seiner Stimme. Alena wendet ihren Kopf ruckartig zu mir herum, aus dem Augenwinkel sehe ich genau, wie sie mich mustert, fixiert, ihr glänzendes Gesicht wie erstarrt. Sie hat es gemerkt, an Corvins Tonfall hat sie gemerkt, dass sich etwas verändert hat, dass etwas zwischen ihm und mir intensiver geworden ist. Wir sind uns vertrauter als noch gestern. Wie Widerhaken reißen ihre Blicke an mir und auch die der anderen. Valerie und der neue Lehrer, interessant. Ich räuspere mich, versuche nur auf Corvin zu achten, ich muss trennen können zwischen dem Lehrer Corvin und »meinem« Corvin, er scheint noch nicht zu ahnen, dass Alena Bescheid weiß; zum Glück. Wenn wir zusammen sind, scheint jede Bedrohung so weit weg von uns zu sein, nur wir beide zählen dann, wir und der Augenblick. Jetzt muss ich eine sinnvolle Antwort geben, ausgerechnet jetzt, wo ich aus dem Augenwinkel sehe, wie Alena etwas auf einen kleinen Zettel schreibt, ihn zusammenfaltet und zu Fiona schiebt. Einen klaren Kopf behalten. Niemand hat mir wirklich etwas vorzuwerfen, Corvin und ich haben uns erst zwei Mal getroffen, wir hatten nicht mal Sex.
»Ich stimme Ellies Satz
Weitere Kostenlose Bücher