Schwarze Stunde
den kommenden Wochen Stories of Initiation . Kann jemand mit diesem Begriff etwas anfangen?«
Das können wir alle, weil das Wort initiation mit Initiative zusammenhängt. Aufbruch, Neubeginn. Einführung. Dieses Thema fesselt mich sofort, endlich einmal etwas, das nicht nur an uns vorbeirauscht und abgearbeitet werden muss, um die nächste Klausur zu bestehen, sondern das etwas mit uns zu tun hat, mit unserem Lebensalter. Für jeden aus diesem Kurs beginnt eigentlich ständig etwas Neues, weil wir noch so im Werden sind, so vieles vor uns liegt, das wir bewältigen müssen, das aber auch spannend ist. Für mich hat mit Corvin etwas Neues angefangen, mehr als nur eine neue Liebe, schon vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, dass sich mein ganzes Leben durch ihn verändern würde. Aufmerksam hefte ich meinen Blick auf ihn, auch die meisten anderen sind ruhig und sehen nach vorn, während er das Thema noch einmal an die Tafel schreibt. Anschließend teilt er Blätter aus, auf denen eine Kurzgeschichte steht. Live life deeply. A short story written by Jessamyn West , lese ich.
»Wer von Ihnen möchte vorlesen?«, fragt Corvin, als alle den Text vor sich liegen haben. Mindestens zehn Leute melden sich, ich auch und natürlich Fiona und Yuki, er aber nimmt Carla dran. Das finde ich gut, sie meldet sich sonst fast nie, obwohl sie immer eine der besten Klausuren und Tests schreibt. Fiona stöhnt unwillig und flüstert Yuki etwas ins Ohr, aber er richtet seinen Blick unbeirrt auf Carla, die bereits rote Flecken am Hals bekommt. Tapfer räuspert sie sich und setzt sich kerzengerade auf, ihr taillenlanger, straff am Hinterkopf gebundener Pferdeschwanz liegt wie ein Schwert auf ihrem Rücken, akkurat gekämmt und ganz gerade. Sie beginnt zu lesen, ringsum wird es still und auch ich beuge mich über meinen Text. Wir lesen die Geschichte eines Mädchens namens Ellie, das sich umbringen will, weil es wegen eines von ihr geschriebenen Essays in der Schule bloßgestellt wurde – ausgerechnet von der Lehrerin, die so etwas wie ihr Idol war. Dadurch hat Ellie ihr gesamtes Selbstvertrauen verloren.
»Life may be compared to a glorious sea and human beings to bathers«, schrieb sie. »Some wade in ankle deep, some only to their waists and some all over. Let us not hesitate in the shallows of life, wet only to the ankle, but plunge bravely in. Let us live life deeply – out where the breakers crash.«
»Danke, Carla«, unterbricht Corvin sie. »Lasst euch diesen Abschnitt bitte noch einmal auf der Zunge zergehen. Wer kann ihn ins Deutsche übersetzen?«
Wieder meldet sich Fiona als Erste.
»Bitte, Fiona«, sagt Corvin und nickt ihr zu.
»Vergleichen wir das Leben mit einem wunderschönen Meer und die Menschen mit Badegästen. Manche waten nur bis zu den Knöcheln hinein, andere nur bis zur Taille und einige ganz. Lasst uns nicht in den Untiefen des Lebens zögern, sondern tapfer eintauchen. Lasst uns das Leben tief leben – draußen, dort wo die Brandung zerschellt«, übersetzt Fiona. Sie nestelt an ihrem Ausschnitt herum und fährt sich durch ihr rotes Haar, das heute besonders gut sitzt, befeuchtet ihre Lippen mit der Zunge und lächelt Corvin an. Natürlich war ihre Übersetzung fehlerlos.
Aber Corvin blickt zu mir und ich zu ihm, unsere Augen versinken ineinander. Bestimmt denkt auch er an unser Gespräch im Flugzeug, genau wie ich. Das Leben ist zu kostbar, um immer nur das zu tun, worin man sich absolut sicher fühlt. Man muss auch mal etwas Verrücktes wagen. Wir beide sind schon mittendrin, miteinander.
»Verweilen wir hier doch einen Moment«, ermuntert uns Corvin. »Was bedeutet Ihnen dieser Satz? Was heißt es für Sie, nicht nur bis zu den Knöcheln in den flachen Wassern des Lebens zu stehen, sondern tapfer hineinzuspringen und alles auszukosten, was es Ihnen bietet? Wer kann Beispiele nennen?«
Augenblicklich schnellen einige Finger nach oben. Wieder war Fiona die erste. Corvin löst seinen Blick von mir und nickt ihr zu.
»Für mich ist es schon ein Abenteuer, nach Deutschland gekommen zu sein«, beginnt sie in makellosem Englisch. »Die Menschen hier, die Kultur, die Sprache, einfach alles. Es ist anders als zu Hause, manchmal vermisse ich die sanften Hügel meiner Heimat, dem County Cavan, und das Meer ringsum. Aber hier zu sein, bei euch allen – das ist auch das Leben. Den eigenen Horizont erweitern, fern von zu Hause. Und ich bin sehr neugierig darauf, wohin es mich noch führt und was ich alles
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