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Schwarze Stunde

Schwarze Stunde

Titel: Schwarze Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Feher
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voll und ganz zu«, beginne ich zögernd. »Wenn man nie etwas Außergewöhnliches wagt, bleibt einem vieles vorenthalten, was das Leben zu bieten hat. Noch nie in meinem Leben war ich besonders risikofreudig, aber ich will nicht eines Tages sterben mit dem Bedauern, nur bis zu den Knöcheln in den Gewässern meines Lebens gewatet zu sein. Das Leben kann auch sehr kurz sein, keiner von uns weiß, ob er morgen noch lebt, obwohl wir noch jung sind. Deshalb sollten wir jede Sekunde auskosten. Jeden besonderen Moment, jede Blüte im Frühling, jeden tollen Song, jedes intensive Gefühl. Ich will das, und zwar mit jeder Zelle meines Körpers und mit meiner ganzen Seele.«
    Im Klassenraum ist es ganz still. Ich fühle meinen Puls rasen, noch immer haftet Corvins Blick auf mir, in meinen Augen, es ist, als hätten wir beide Zeit und Raum vergessen, wir nehmen nichts mehr wahr außer uns beiden. Von den anderen ist verhaltenes Füßescharren zu hören, von irgendwoher unterdrücktes Kichern, hinter mir drückt Frau Bollmann immer wieder auf ihrem Kugelschreiber herum, klick, klick, klick, ich habe das Gefühl, sie sieht Corvin warnend an, misstrauisch, er hat, während ich geredet habe, auf der vorderen Ecke des Lehrerpults gesessen, jetzt steht er auf, fährt sich mit der Hand übers Kinn, lächelt gezwungen.
    »Sie haben recht, Valerie«, bemerkt er. »Auch wenn es keine schöne Vorstellung ist und man in Ihrem, selbst in meinem Alter, keine Lust hat, schon an den eigenen Tod zu denken. Das müssen wir jetzt auch nicht tun. Nehmen wir diesen Hinweis als Anlass, unser Leben so intensiv zu leben wie es geht! Live life deeply!«
    Fiona hebt ihren Arm, wartet aber nicht, bis Corvin sie aufruft.
    »Aber Ellie in der Kurzgeschichte schrieb ihr live life deeply , bevor sie sich umbringen wollte«, erinnert sie uns. »Und das hatte sie bestimmt nicht nur vor, weil sie ausgelacht wurde. Meiner Meinung nach gehört mehr dazu, wenn jemand seinem Leben ein Ende setzen will. Depressionen etwa oder ein zu gewaltiger psychischer Druck. Der Aufruf, ganz und gar ins Leben eintauchen zu wollen, kann auch ein Ablenkungsmanöver ihrerseits sein. Niemand sollte wissen, was sie vorhat.«
    »Wohl eher umgekehrt«, mischt sich Alena ein. »Sie wollte sich nicht umbringen, sie wurde dazu gebracht. Beinahe jedenfalls.«
    »Genau«, grölt Oleg dazwischen und fährt sich mit der Handkante über die Kehle, verdreht die Augen und lässt seine Zunge seitlich heraushängen. »Geile Angelegenheit.«
    Mir wird unbehaglich zu Mute, meine Hände schwitzen. Auch Corvin wirkt fahrig, dreht sich zur Tafel und wischt das Datum weg, stutzt, schreibt es wieder neu hin. Starrt auf das Textblatt, versucht sich wieder zu sammeln. Fiona öffnet Alenas Zettel, liest ihn und sieht zu mir, kneift die Lippen zusammen und schreibt eine Antwort. Lass Corvin nichts merken und auch Frau Bollmann nicht, flehe ich stumm. Nicht, dass sie aufsteht und Fiona den Zettel abnimmt, das wäre schlimmer als meine Vermutung, dass Alena mich soeben verraten hat.
    »Nun, ich denke, wir lesen erst einmal weiter, um zu sehen, wie es mit Ellie weitergeht«, regt Corvin an. Natürlich meldet sich wieder als Erste Fiona, die prompt reagiert hat und den Zettel verschwinden ließ. Ihre makellose englische Aussprache bringt alle dazu, sich wieder auf den Text zu konzentrieren. Frau Bollmann hinten fährt fort, sich Notizen zu machen. Wir diskutieren und interpretieren, dann schreibt Corvin eine Aufgabe an die Tafel, die wir schriftlich lösen sollen. Mir tut es gut, mich auf die Aufgabe konzentrieren zu können. Am Ende der Stunde bittet mich Corvin, die Blätter einzusammeln und nach vorne zu bringen, ein Auftrag, den ich mechanisch ausführe, übertrieben darauf bedacht, nicht zu dicht an ihm vorbeizugehen, ihn nicht anzulächeln. Eilig kehre ich auf meinen Platz zurück und stutze, weil auf meinem Stuhl ein Zettel liegt. Nicht Alenas Zettel an Fiona, der aus gelbem Papier gewesen ist; dieser hier ist weiß und in der Mitte unterteilt, herausgerissen aus einem Vokabelheft und nicht einmal zusammengefaltet. Pass auf, was du tust , steht darauf. Neben der schwarzen Schrift ein eingetrockneter Blutstropfen. Ich spüre, dass mein Magen rebelliert, stoße meinen Stuhl zurück, presse mir die Hand auf den Mund und stürze nach draußen.

11.

    A lena ist mir zur Toilette nachgeeilt. Den Rest des Schultages weicht sie mir nicht mehr von der Seite, stützt mich, als könnte ich nicht selbstständig

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