Schwarze Themse
kaltes Wasser«, wies Hester Bessie an. Der Zustand der Frau war ernst. Wenn sie das Fieber nicht wenigstens um ein oder zwei Grad herunterbekamen, konnte sie leicht ins Delirium fallen und sterben.
Bessie machte sich gleich auf den Weg, und Hester nahm die Kerze vom Nachttisch, um Ruth Clark näher zu betrachten. Sie atmete unregelmäÃig, und ihre Brust schien zu rasseln, als sei die Lunge angefüllt mit Flüssigkeit. Lungenentzündung. Die Krise kam womöglich heute Nacht. Hester konnte nicht nach Hause gehen. Wenn sie ihr ganzes Können einsetzte, konnte sie die Frau vielleicht retten. Sie sah kräftig aus und war zweifellos die Geliebte eines Mannes und nicht eine von den Frauen, die auf der StraÃe standen und ihren Körper an jeden verkauften, der sich ihre Dienste leisten konnte. Letztere verbrachten die Nächte oft frierend und hungrig und bei schlechtem Wetter mit nassen FüÃen und womöglich auch noch nassen Kleidern. Hester stellte die Kerze zurück.
Bessie kam mit dem Wasser und den Tüchern herein und stellte alles auf den Boden.
Hester dankte ihr und bat sie, nach den anderen Patientinnen zu schauen und dann die Gelegenheit zu nutzen und ein wenig zu schlafen.
»Nicht, wenn Sie sich ganz allein um sie kümmern!«, sagte Bessie entrüstet.
»Das ist keine Arbeit für zwei«, antwortete Hester, lächelte aber über Bessies Loyalität. »Wenn Sie sich jetzt ausruhen,
können Sie mich morgen früh ablösen. Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche, versprochen.«
Bessie wich nicht von der Stelle. »Ich hör Sie doch im Leben nicht!«
»Legen Sie sich ins Zimmer gegenüber, dann hören Sie mich schon.«
»Und Sie rufen auch wirklich?«, hakte Bessie nach.
»Ja! Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg!«
Bessie gehorchte, und Hester tauchte ein Tuch in das kalte Wasser, wrang es aus und legte es der kranken Frau auf die Stirn. Zuerst schien es sie zu stören, und sie versuchte, es wegzuschieben. Hester nahm das Tuch und strich damit über ihren Hals. Dann wrang sie es noch einmal aus und versuchte es ein zweites Mal auf der Stirn.
Ruth stöhnte, und ihre Augenlider flackerten.
Immer wieder tunkte Hester das Tuch ins Wasser, wrang es aus und wusch die Frau damit ab, zuerst nur Gesicht und Hals. Als das kaum Wirkung zeigte, schlug sie die Bettdecke zurück und legte der Frau das Tuch auch auf die Brust.
Die Zeit schlich dahin. Hester schaute auf die Uhr, es war zehn.
Um Mitternacht herum merkte sie, dass Ruth sich eine Weile nicht bewegt hatte, vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten. Hester beugte sich vor. Sie konnte das Heben und Senken der Brust nicht sehen. Sie war mit dem Tod zu sehr vertraut, um Angst vor ihm zu haben, aber traurig machte er sie immer. Sie streckte die Hand aus und tastete nach dem Hals der Frau, nur um sich zu vergewissern, dass es keinen Puls mehr gab. Ruth schlug die Augen auf. »Was ist los?«, flüsterte sie verärgert. Es war das erste Mal, dass Hester sie etwas sagen hörte, und ihre Stimme verblüffte sie. Sie war tief, weich und gefällig, die Stimme einer Frau mit einiger Bildung und Kultur. Hester erschrak dermaÃen, dass sie zurückzuckte. »Es ⦠es tut mir Leid«, sagte sie, als hätte sie nicht eine kranke Patientin versorgt, sondern sich in ein fremdes Schlafzimmer geschlichen.
»Ich wollte sehen, ob Sie noch Fieber haben. Fühlen Sie sich besser? Möchten Sie etwas trinken?«
»Ich fühle mich schrecklich«, antwortete Ruth, deren Stimme sich anhörte, als wäre ihre Kehle völlig ausgedörrt.
»Möchten Sie etwas Wasser?«, wiederholte Hester ihr Angebot. »Ich helfe Ihnen, sich aufzusetzen.«
Ruth blickte sie stirnrunzelnd an. »Wer sind Sie?« Sie schaute sich im Zimmer um, ohne den Kopf zu bewegen. »Was ist das für ein Ort? Sieht aus wie ein Bordell!«
Hester lächelte. »Das ist ⦠war es auch mal. Jetzt ist es eine Klinik. Erinnern Sie sich nicht, wie Sie hergekommen sind?«
Ruth schloss die Augen. »Wenn ich mich daran erinnern würde, würde ich nicht fragen!«
Hester war verblüfft. Schockiert erkannte sie, wie sehr sie sich an die Dankbarkeit der Kranken und Verletzten gewöhnt hatte, die hier immer wieder Zuflucht fanden. Sie betrachtete es inzwischen als selbstverständlich, doch diese Frau hier empfand keinerlei Bewunderung, kein Gefühl des
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