Schwarze Themse
Respekts vor ihrer Retterin.
Vielleicht, weil sie daran gewöhnt war, von den Dienstboten ihres Geliebten bedient zu werden? War sie in der Regel diejenige in der Beziehung, die die Macht hatte, und hatte sie womöglich im Fieber vorübergehend vergessen, dass ihr Geliebter sie rausgeworfen hatte? Oder erinnerte sie sich sehr wohl daran und richtete ihren Zorn darüber, zurückgewiesen worden zu sein, gegen Hester, einfach weil Hester zugegen war?
»Erinnern Sie sich daran, dass Mr. Louvain Sie hierher gebracht hat?«
Ruths Miene veränderte sich kaum merklich, so leicht, dass es auch nur die Anstrengung gewesen sein konnte, sich zu konzentrieren, oder die Angst, die Kontrolle über das zu verlieren, was mit ihr geschah.
Hester konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken sich der Frage zuwandten, wie aus dieser Frau eine abgelegte Geliebte geworden war, gerettet von einem Mann, den sie womöglich
kaum kannte, und schrecklich krank in eine Wohltätigkeitsklinik für Prostituierte gebracht. Sie war offensichtlich gebildet, sie war gut aussehend, vielleicht sogar richtig hübsch, wenn es ihr besser ging. Hatte sie sich hoffnungslos in einen Mann verliebt, den sie nicht heiraten konnte? Oder wollte er sie nicht ehelichen? War sie adliger Armut entflohen, indem sie ein Leben akzeptierte, das viele als sündig betrachteten? Wie? Zufällig? Bewusst gewählt? Abenteuerin oder Opfer? Womöglich beides? Oder Louvains Geliebte?
»Er hat mich hergebracht?«, fragte Ruth leise.
»Ja.« Hester hätte noch einmal fragen sollen, ob Ruth Wasser trinken wollte, aber die Neugier lieà sie noch einen Augenblick warten.
Ein merkwürdiges Lächeln huschte über Ruths Lippen, voller Ironie, als läge darin ein furchtbarer Witz, den sie selbst in ihrem elenden Zustand noch anerkennen könnte. »Was hat er gesagt?« Sie blickte Hester hart und wütend in die Augen. Sie würde ihre Hilfe annehmen, aber sie würde ihr nicht dafür danken.
»Er sagte, Sie seien die Geliebte eines Freundes von ihm, der Sie wegen Ihrer Krankheit rausgeworfen habe«, antwortete Hester. Die Antwort war grausam, aber eine Frau, die â freiwillig oder unfreiwillig â einen solchen Weg gegangen war, musste daran gewöhnt sein, der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Ruth schloss die Augen, als eine Welle des Schmerzes sie überkam, aber das Lächeln verschwand nicht ganz.
»Geliebte? Hat er das gesagt?«, flüsterte sie höhnisch.
»Ja.«
»Hat er Sie bezahlt? Sitzen Sie deswegen hier und kümmern sich um mich?«
»Er hat uns bezahlt, ja. Genauer gesagt, hat er mir eine Spende gegeben, die groà genug ist, um die Kosten für Ihre Behandlung und die einiger anderer Frauen zu decken. Aber wir hätten Sie auf jeden Fall aufgenommen. Wir haben viele hier, die uns nichts geben können.«
Ruth schwieg. Das Atmen strengte sie sehr an, und ihr Gesicht war gerötet. Hester stand auf und holte ein halbes Glas Wasser. »Sie sollten das trinken. Ich helfe Ihnen, sich aufzusetzen.«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Ruth gereizt. »Sie werden bezahlt, damit Sie sich um mich kümmern, also betrachten Sie sich als entlassen.«
Hester zügelte ihre Zunge. »Sie fühlen sich besser, wenn Sie etwas Flüssigkeit zu sich nehmen. Sie haben hohes Fieber und müssen trinken.«
»Fieber! Ich fühle mich elender, als sich ein Mensch überhaupt fühlen kann â¦Â«
»Dann hören Sie auf, so launisch zu sein, und lassen Sie mich Ihnen helfen, etwas Wasser zu trinken«, drängte Hester.
»Gehen Sie ⦠gehen Sie â¦Â« Mit scharlachrotem Gesicht rang Ruth nach Luft.
Hester stellte die Tasse weg, beugte sich vor, schlang die Arme um Ruths Schultern, hievte sie hoch und schob ihr ein zweites Kissen in den Rücken. Mit einiger Mühe hielt sie ihr die Tasse an die Lippen. Der erste Schluck ging daneben, floss ihr über den Hals auf die Brust, den zweiten schluckte sie wenigstens halb. Danach ergab sie sich und trank den Rest und lehnte sich dann erschöpft zurück.
Hester nahm das Kissen weg und half ihr, sich wieder hinzulegen, dann machte sie sich erneut an die Prozedur mit Tuch und kaltem Wasser.
Kurz nach zwei lieà sie sie eine Weile allein und schaute, nur um sicherzugehen, dass es allen entsprechend gut ging, nach den anderen Patientinnen, dann ging sie hinunter in die Küche,
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