Schwarze Themse
Geschäftigkeit um sie herum.
Margaret ging kurz nach acht Uhr am Abend. Sie wollte mehr von den wichtigsten Vorräten kaufen, Chinin, zum Beispiel, das teuer und schwer zu bekommen war, und so einfache Dinge wie Verbände und gute chirurgische Seide und Katgut.
Hester schlief vier Stunden lang und fuhr kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf hoch. Claudine Burroughs stand neben ihrem Bett, ihr langes Gesicht zeigte Besorgnis und Abscheu. Gleichzeitig wirkte sie auch verärgert.
»Was ist los?« Hester setzte sich langsam auf. Sie kam nur mühsam zu sich, ihr Kopf schmerzte, und ihre Augen waren heiÃ. Sie hätte fast alles dafür gegeben, sich wieder dem Schlaf überlassen zu können. Das Zimmer um sie herum schwankte. Die kalte Luft lieà sie frösteln. »Was ist passiert?«, fragte sie.
»Die Frau, die zuletzt gekommen ist«, sagte Claudine und wählte ihre Worte mit Bedacht, »ich glaube, sie hat ⦠eine Krankheit ⦠moralischer Natur.« Ihre Nasenflügel bebten, als könnte sie deren Geruch im Zimmer riechen.
Hester lag eine knappe Antwort auf der Zunge, dann besann sie sich darauf, wie sehr sie Claudines Hilfe brauchten, wenn sie sich auch ungeschickt anstellte. Sie beschwerte sich dauernd und missbilligte, was sie tat, aber sie arbeitete, und es erschien fast so, als fände sie eine perverse Befriedigung darin. Der Gedanke ging Hester durch den Kopf, was sie zu Hause wohl für ein Leben führen musste, dass sie hierher kam, um etwas Glück oder ein Ziel für sich zu finden. Aber sie hatte keine Zeit, den Ãberlegungen nachzugehen.
»Welche Symptome hat sie?«, fragte sie und schwang die Beine aus dem Bett.
»Ich weià nicht viel über solche Sachen«, rechtfertigte Claudine sich. »Aber sie hat Narben wie von Pocken auf Armen und Schultern und anderes, was ich lieber nicht laut aussprechen möchte.« Sie stand sehr steif da, als wollte sie sich jeden Augenblick
wieder zurückziehen. Ihr Gesicht war merkwürdig verkniffen. »Ich glaube, das arme Ding wird sterben«, fügte sie hinzu und hatte plötzlich ein schroffes Mitleid in der Stimme, das rasch wieder verschwand, als schämte sie sich dessen.
Zum ersten Mal fragte Hester sich, ob Claudine je einen Toten gesehen hatte und ob sie sich davor fürchtete. Bislang hatte sie noch gar nicht daran gedacht. Langsam stand sie auf. Sie war steif, weil sie vor Erschöpfung zu lange in einer Position gelegen hatte.
»Ich komme und sehe, was ich tun kann«, sagte sie. »Ist vielleicht nicht viel.«
»Ich helfe Ihnen«, meinte Claudine. »Sie ⦠Sie sehen müde aus.«
Hester nahm ihre Hilfe an und bat sie, eine Schüssel Wasser und ein Stück Stoff zu holen.
Claudine hatte Recht, die Frau sah wirklich sehr krank aus. Sie kam immer mal wieder zu Bewusstsein, ihr Haut war heià und trocken, ihr Atem rasselte, und ihr Puls war schwach. Ab und zu schlug sie die Augen auf und wollte etwas sagen, aber was sie herausbrachte, war nicht zu verstehen.
Hester wachte bei ihr und überlieà es Mercy Louvain, sich um Ruth Clark zu kümmern und deren Fieber in Schach zu halten. Claudine kam und ging, jedes Mal ängstlicher.
»Können Sie nichts für sie tun?«, fragte sie flüsternd aus Rücksicht darauf, dass die kranke Frau sie womöglich hören konnte.
»Nein. Ich bleibe einfach bei ihr, damit sie nicht allein ist«, antwortete Hester. Sie hielt die Hand der Frau mit leichtem Druck, gerade genug, um ihr zu zeigen, dass sie da war.
»So viele von ihnen â¦Â« Claudine wollte nicht sagen »sterben wie diese«, aber es war an ihrem blassen Gesicht und ihren fest zusammengepressten Lippen deutlich abzulesen. Mit steifen, geröteten Händen strich sie die Schürze über dem Bauch glatt.
»Ja«, sagte Hester einfach. »Er ist ein Wagnis, dieser Beruf, aber er ist besser, als zu verhungern.«
»Der Beruf!« Claudine spuckte die Worte beinahe aus. »Aus Ihrem Mund klingt das so, als sei es eine anständige Arbeit! Haben Sie eine Vorstellung davon, welchen Kummer sie â¦Â« Sie hielt abrupt inne.
Hester hörte den Schmerz in Claudines Stimme und in den plötzlich unterdrückten Worten, als habe sie sich bereits verraten. Sie drehte sich um und schaute zu Claudine auf. Sie sah Scham in deren Augen und Angst, als wüsste Hester womöglich bereits mehr, als ihr
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