Schwarze Themse
Bett, den Kopf tiefer in den Kissen, als Hester sie normalerweise gebettet hätte. Zweifellos hatte jemand versucht, es ihr bequemer zu machen, und nicht gewusst, dass es bei Stauung in der Lunge besser war, wenn der Oberkörper etwas
höher lag. Sie trat rasch ans Bett und schaute auf die schlafende Frau hinunter. Es war eine Schande, sie zu stören, sie ruhte in vollkommenem Frieden. Aber sie konnte aufwachen, wenn sie würgend husten musste.
»Ruth«, sagte Hester leise.
Sie bekam keine Antwort. Ihr Atem ging dermaÃen flach, dass er überhaupt nicht zu hören war.
»Ruth«, sagte Hester noch einmal und legte die Hand leicht auf die Bettdecke. »Sie müssen sich ein bisschen aufsetzen, sonst gehtâs Ihnen schlechter.«
Keine Reaktion.
Hester tastete am Hals nach dem Puls. Nichts, und die Haut war ziemlich kalt. Sie tastete noch einmal und drückte dabei fester zu. Ruth war doch auf dem Weg der Besserung gewesen, es war ihr so gut gegangen, dass sie sogar mit Mercy und Flo streiten konnte.
Aber nicht einmal an der Halsschlagader war der geringste Puls zu spüren, und aus ihrer Nase und ihrem Mund kam kein Atem, als Hester die Kerze näher brachte und ihr dann auch noch den Deckel ihrer glänzenden Uhr vor die Lippen hielt. Ruth Clark war tot.
Hester richtete sich auf und stand still da. Sie war überrascht, wie tief der Tod dieser Frau sie berührte. Es war nicht so, als hätte Hester sie gemocht, sie war taktlos und anmaÃend gewesen und hatte für die Menschen, die sich um sie kümmerten, nicht die geringste Dankbarkeit empfunden. Aber sie war so lebendig gewesen, dass man weder sie noch ihre Leidenschaft, die schiere Kraft ihrer Existenz ignorieren oder vergessen konnte. Und jetzt hatte sie ohne jede Vorwarnung aufgehört zu leben.
Warum war sie so plötzlich und ohne vorhergehende Verschlechterung gestorben? War es Hesters Schuld? Hatte sie etwas übersehen, was sie hätte behandeln müssen? Hätte sie sich besser um sie gekümmert, wenn sie ihr mehr zugetan gewesen wäre? Hätte sie dann mehr auf die Symptome geachtet und weniger auf ihren aggressiven Charakter?
Sie schaute auf das ruhige Gesicht der Toten hinunter und fragte sich, wie sie wohl gewesen war, bevor sie krank wurde, als sie glücklich war und glaubte, geliebt oder zumindest begehrt zu werden. War sie damals freundlicher gewesen, sanfter, als sie sich hier gezeigt hatte? Wie vielen Menschen gelang es, sich immer noch von ihrer besten Seite zu zeigen, wenn sie so wie sie abgewiesen worden waren?
Hester wollte ihr die Hände falten. Eine kleine Geste des Anstands, aus Achtung vor der Toten. Erst als sie die Finger berührte, spürte sie die eingerissenen Fingernägel und griff nach der Kerze, um sie sich genauer anzusehen. Sie stellte die Kerze auf den Tisch und untersuchte die Finger der anderen Hand. Auch hier waren Nägel abgebrochen. Es waren frische Risse, die abgerissenen Stücke lagen noch auf der Decke, während andere Nägel makellos waren â die Nägel einer Frau, die ihre Hände pflegt.
Unbehagen überkam sie, wenn auch noch keine Angst. Sie schaute Ruth noch einmal ins Gesicht. Auf der Oberlippe war ein wenig Blut, nur leicht verschmiert, und an der Nase fand sie eine Spur Schleim. Bei dem Fieber und der Stauung in der Lunge war das kaum überraschend. War sie vielleicht erstickt?
Hester schob die Lippen der Frau leicht auseinander und sah im Mund Bissverletzungen, als hätten die Zähne sich fest in die Schleimhaut gedrückt. Jetzt bekam sie wirklich Angst. Das durfte nicht sein. Sie packte das Kissen und zog es unter dem Kopf der Frau hervor. Sauber. Sie drehte es herum. Auf der Rückseite waren Blut und Schleim.
Hester zwang sich, die Augenlider der Frau langsam eines nach dem anderen hochzuziehen und sich die Augen anzusehen. Auch hier fand sie winzig kleine Blutungen, und ihr drehte sich der Magen um vor Kummer â und Angst. Ruth Clark war erstickt worden. Jemand hatte ihr das Kissen rasch und fest aufs Gesicht gepresst und mit seinem Körpergewicht heruntergedrückt.
Wer? Und warum, um Himmels willen? Es hatte Streitereien
gegeben, aber das waren doch dumme Kleinigkeiten gewesen? Warum Mord?
Hester zog sich langsam zurück, vergewisserte sich, dass die Tür auch wirklich geschlossen war, und lehnte sich dagegen, als bräuchte sie einen festen Halt. Was sollte sie tun? Die Polizei
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