Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
Hass.
Das unheimliche Geläut wurde immer tiefer und beängstigender. Ohne mitgezählt zu haben, wusste Lukas, dass sie inzwischen zum zehnten Mal geschlagen hatten. Seine Verfolger brüllten. Abrupt wechselte Lukas die Richtung, und obwohl ihm Sylvias Anweisung vollkommen irrwitzig vorkam, stürmte er auf eine der Wohnungstüren zu. Er erreichte sie mit dem dreizehnten Glockenschlag, riss sie auf – und stolperte kopfüber in die Finsternis.
Höllenzwang
L ukas war so übel wie nach einer durchzechten Nacht. Ein Kribbeln erfüllte seine Gliedmaßen, in seinen Ohren rauschte das Blut, und der schwache Geruch warmen Essens drang ihm in die Nase. Essen? Der Geruch drehte ihm den Magen nur noch mehr um. Schwankend hielt er sich aufrecht und taxierte seine Umgebung: ein großer Raum mit dunkler Wandtäfelung, die sich in Form eines Schachbrettmusters bis über die niedrige Raumdecke spannte. Unmittelbar unter der Decke prangten mittelalterlich anmutende Bemalungen, und überall im Raum verteilt standen gedeckte Tische. Die Flecken auf den Tischtüchern verrieten ihm, dass hier vor kurzem Personen gespeist hatten. Was war das hier? Ein Restaurant?
Konsterniert spähte er hinter sich, hielt nach der aufgerissenen Haustür und den beiden Sachsen Ausschau – und fand nichts von beidem. Lukas klammerte sich an einem Stuhl mit herzförmiger Holzlehne fest. Er war so durcheinander, dass er eine Weile brauchte, bis er sich traute, sich abermals zu regen. Erstmals fiel sein Blick auf die schlanken Saalfenster. Dahinter war es so dunkel, als wäre die Sonne längst untergegangen. Verdammt, wo war er?
Lukas hob die Armbanduhr. Dem Ziffernblatt zufolge war es eine halbe Stunde vor Mitternacht. Hektisch kramte er sein Smartphone hervor und überprüfte die Uhrzeit. Das gleiche Resultat. Die Datumsanzeige zeigte noch immer Freitag an, doch er hatte nicht den blassesten Schimmer, was in den vergangen elf Stunden passiert war. Er ließ sich auf den Stuhl sinken und zwang sich, ruhig zu atmen. Hier stimmte etwas nicht. Und zwar ganz und gar nicht. Seine Gedanken überschlugen sich, kreisten um Fragen, auf die er keine Antwort fand, und die Angst trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er kam erst wieder zur Besinnung, als er Schritte vernahm. Eine junge, adrett gekleidete Frau mit rotem Rock und weißer Bluse betrat den Speisesaal mit einem Stapel frischer Tischdecken unter dem Arm und sah ihn überrascht an. »Es tut mir leid, aber die Küche hat bereits geschlossen. Wenn Sie Hunger haben, schaue ich gern, ob ich Ihnen noch etwas aufs Zimmer bringen kann.«
»Nein, äh, danke.« Lukas erhob sich steif und versuchte sich an einem Lächeln. Es zerfaserte. Also war das hier ein Hotel. Nur welches? Er würde sich zum Narren machen, wenn er die Frau fragte. Vorsichtshalber betastete er seine Jacke und spürte noch immer die Ausbeulung des gestohlenen Portemonnaies. Hastig verließ er den Essraum und überprüfte den Inhalt der Börse. Er fand neben zahlreichen Plastikkarten und zerknüllten Einkaufszetteln fast fünfhundert Euro. Der arrogante Sachse hatte vor ihrem Zusammentreffen offenbar einen Geldautomaten geplündert. Das war gut, beantwortete aber nicht die drängendste Frage: Was sollte er jetzt tun?
Lukas lauschte. Als ihm aus einem der Gänge das Geräusch leiser Stimmen entgegendrang, folgte er diesem einen Gang mit abzweigenden Türen und Treppen entlang und geradewegs zur Hotelrezeption. In dem schmalen Bereich mit rot gestrichenem Tresen und dunkler Wandtäfelung reichte eine schlanke Mittdreißigerin soeben einem Gast seinen Zimmerschlüssel. Der Mann bedankte sich, klappte den Griff eines Rollkoffers aus und nickte grüßend, als er an Lukas vorbeiging. Lukas hingegen beachtete die freundliche Geste kaum. Erstaunt starrte er auf einen Rucksack, der unweit des Tresens auf dem Boden stand. Das war sein eigener, unverkennbar durch die Aufnäher diverser Jonglage- und Zauberer-Festivals, die er eine Zeitlang gesammelt hatte wie Heavy-Metal-Anhänger Festival-Badges. Unmöglich! Den hatte er doch am Bahnhof in ein Schließfach gesperrt.
Die Rezeptionistin sah zu ihm auf, runzelte die Stirn, bemerkte dann aber den Blick, mit dem er den Rucksack ansah. »Ist das Ihrer?«
Lukas nickte bloß.
»Sehr schön. Ihre Freundin sagte mir bereits, dass Sie später kommen würden. Wie Sie sehen, hat der Taxifahrer Ihr Gepäck bereits gebracht.«
Sprach die Frau von Sylvia? Lukas’ Verwirrung wich aufkeimendem Ärger. Aufgewühlt
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