Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
ehemaligen Kornhaus vorbei in eine wenig bevölkerte Gasse, die von Cafés, Weinstuben und kleinen Geschäften flankiert wurde. Zwei Japaner vor einem Schaufenster machten ihm hastig Platz. Schließlich erreichte er eine Kreuzung, wich einem weinroten Kombi aus, dessen Fahrer wütend hupte, und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, seine Verfolger abzuschütteln – als er Sylvia ein weiteres Mal entdeckte. Sie trat etwa zwanzig Meter vor ihm auf die Straße und lächelte. Wie hatte sie ihn so schnell überholen können? Vollkommen ruhig stand sie da, und fast schien es ihm, als erwarte sie ihn. Ihr langes schwarzes Haar, das der Wind anhob, wirkte im Zwielicht unwirklich. Wie fließende Schatten, die ihre weiblichen Konturen provozierend umschmeichelten. Über ihm am Himmel grollte es. Gelassen zog sie sich wieder zurück, während hinter Lukas die Stiefelschritte der Sachsen aufhallten. »Gleich haben wir dich, du Wanze!«
Lukas stürmte weiter in die Richtung, in die Sylvia verschwunden war. Er gelangte auf einen gepflasterten, von Bäumen gesäumten Platz, der von zweistöckigen, mittelalterlich anmutenden Wohnhäusern gerahmt wurde. Sylvia sah er nicht unter den herbstlaubfarbenen Dächern der ausladenden Baumkronen, aber in diesem Moment schlug sein Smartphone an. Als Lukas zu den Bäumen hinüberrannte, sich hektisch zu den immer näher kommenden Schritten in seinem Rücken umwandte und das Handy zückte, leuchtete ihm auf dem Display Sylvias Name entgegen.
»Scheiße, hilf mir!«, fauchte er sie an.
»Du klingst ja richtig verzweifelt«, schallte ihm Sylvias spöttische Stimme entgegen.
Lukas fluchte leise. Panisch sah er sich um und entdeckte, dass er in einer Art Sackgasse gelandet war. Von hier aus ging es nicht weiter.
»Aber ich will mal nicht so sein«, erklärte ihm Sylvia derweil in nonchalantem Plauderton. »Sieh dich um. Ich habe etwas für dich zurückgelassen. Wenn du es gefunden hast, warte bis zum Glockenschlag und lauf dann zur nächstbesten Tür. Und Lukas«, ihre Stimme wurde schärfer, »besser, du befolgst meine Anweisungen.«
Es klickte, und er sah sich verwirrt um. Da entdeckte er die Karten. Sie lagen unter einem der Bäume; der auffrischende Wind trieb sie zunehmend auseinander und über das Pflaster. Ein Tarot-Spiel? Ratlos betrachtete er die antiquiert wirkenden Karten und kämpfte den Impuls nieder, zurück auf die Straße zu laufen, um dort sein Glück zu versuchen. Die beiden Sachsen kamen immer näher! Schließlich siegte die Neugier. Rasch hob er eine der Karten auf und sah, dass sie allesamt das gleiche Motiv trugen: eine Frau in schwarzem, sündhaft geschlitztem Gewand, das Haupt von verwelkten Blumen gekrönt. Die Ähnlichkeit mit Sylvia war unverkennbar. Lasziv hielt sie das Maul eines Löwen gepackt, der demütig zu ihr aufblickte. Ohne Zweifel war dies die elfte Karte des Tarots, auch wenn die Abbildung seltsam verfälscht wirkte. Soweit Lukas wusste, stand das Motiv für Kraft. Wollte ihn Sylvia verarschen? Und was sollte das mit den Glocken? Er blickte auf seine Uhr. Kein Kirchturm der Welt läutete um dreizehn Uhr … dreizehn.
In diesem Moment ertönte über den Dächern Staufens der erste Glockenschlag. Der Klang drang verzerrt an seine Ohren, ein weiterer Glockenschlag folgte. Auch dieser war unheimlich. Einige Oktaven zu tief, wie Lukas fand. Und was war das? Die eigentümliche Tarot-Karte in seiner Hand verfärbte sich an den Rändern schwarz. In diesem Moment tauchte der beleibte Sachse hinter der Hausecke auf. Der dritte Glockenschlag ertönte. Dann der vierte. Die Töne folgten im Sekundentakt, jeder von ihnen tiefer als der vorhergehende. Wie ein bedrohlicher Countdown.
Sein Verfolger schien nichts von alledem zu bemerken, hielt triumphierend inne und rannte mit geballten Fäusten auf ihn zu.
Weitere Glockenschläge rollten an Lukas’ Ohren und mischten sich mit dem Grollen am Himmel zu einem unheimlichen Klangbild. Die Karte in seiner Hand wirkte inzwischen wie verkohlt. Lukas warf sich herum, hetzte tiefer in die Schatten der Bäume. Wohin, verdammt? Er wollte soeben in einen der Vorgärten springen, als er Finger an seiner Jacke spürte. Lukas schüttelte die Hand ab, tauchte unter einem Schwinger des Dicken hindurch, rannte an ihm vorbei zurück in Richtung Straße – und direkt in die Arme des anderen Sachsen, der soeben um die Häuserecke gespurtet kam. Noch immer quoll ihm das Blut aus der Nase. Aus seinem Blick sprach blanker
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