Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
der Reichskrone entfernte. Und zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit Einwilligung Barbarossas.« Plötzlich wurde er still, und ein staunender Ausdruck schlich sich in das kleine Gesicht des Homunkulus. »Millepertia, da hinten, nahe dem Abakus, müsste ein Buch mit einem Einband aus rotem Rindsleder liegen. Schnell, bring es mir, bitte.«
Millepertia lief ohne zu zögern in die angegebene Richtung und kam nach kurzer Zeit mit einer dicken Schwarte wieder, auf der eingebrannt das Symbol eines Turmes zu sehen war. Sie schlug das Buch auf und legte es auf den Boden, so dass Abraham auf die Seiten klettern konnte, die er eine Weile lang mühevoll umblätterte.
»Wusste ich doch, dass mir der lateinische Begriff bekannt vorkam.« Er deutete auf die Abbildung einer großen Burganlage, die sich über einen Hügelkamm erstreckte. »Der Ausdruck, den von Wied meinte, lautet vollständig
Castrum etiam Cuphese.
«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Lukas.
»Durch die Erwähnung Barbarossas. Mit
Castrum etiam Cuphese
ist eine mittelalterliche Befestigung gemeint. Nämlich die
Reichsburg Kyffhausen
im östlichen Ausläufer des Kyffhäusergebirges – damals eine der größten Burgenanlagen des Heiligen Römischen Reiches. Sagt Euch das nichts?«
»Kyffhäuser?« Lukas richtete sich auf. »Natürlich sagt mir das etwas. Um das Kyffhäusergebirge rankt sich schließlich eine der bekanntesten Sagen Deutschlands. Die Barbarossa-Sage!«
Millepertia nickte aufgewühlt. »Und in dieser Sage heißt es, dass Kaiser Rotbart in einem unterirdischen Schloss die Zeit überdauert, um sein Reich eines Tages neu zu errichten. Alle hundert Jahre würde er Raben entsenden, die nachsehen sollen, ob die Zeit für seine Rückkehr schon reif sei. So lange schläft er dort den Schlaf des Gerechten.«
Abraham wiegte seinen kleinen Kopf. »Dabei ist überliefert, dass Barbarossa in Kleinasien in einem Fluss ertrank. Allerdings ist er der einzige Herrscher des Mittelalters, dessen Grabgelege bis heute unbekannt ist.«
»Oh Mann.« Lukas atmete tief ein. »Mir fiele schon etwas ein, das es wert wäre, tief in einem Berg versteckt zu werden.«
»Allerdings.« Abraham schwieg eine Zeitlang, dann schüttelte er den Kopf. »Und doch stimmt mich eine Sache nachdenklich.«
»Welche?«
»Warum hat von Wied Euch gegenüber dieses Geheimnis so bereitwillig ausgeplaudert?« Abraham stemmte die Arme in die Hüften. »Führen wir uns die Sachlage doch einmal plastisch vor Augen: Er wurde auf einem Hexentanzplatz wiederbelebt. Rund um ihn herum befanden sich Höllenpaktierer. Selbst der Teufel persönlich war zugegen. Und wenn wir es recht betrachten, haben wir den grigorianischen Himmelsgesang vollständig pervertiert. Also frage ich noch einmal: Warum hat er Euch all diese Hinweise geliefert?«
»Vielleicht stecken dahinter verborgene himmlische Absichten?«, versuchte sich Lukas an einer Erklärung. Er sah zu Millepertia auf, die ihn ausdruckslos ansah.
Abraham verengte die Augen. »Ehrlich gesagt traue ich im Augenblick weder Himmel noch Hölle. Fast glaube ich, dass sie alle uns Sterbliche nach Gutdünken benutzen.« Er seufzte. »Aber was bleibt uns anderes übrig, als der Spur zu folgen? Es gibt nur noch eine Sache, die wir erledigen müssen, dann reisen wir ab. Noch heute Nacht. Und dann …«
»Nein!«, unterbrach Millepertia ihn mit scharfer Stimme und sprang auf. »Das Kyffhäusergebirge wird bis morgen warten.«
»Aber wir …«
»Du hast mich gehört, Abraham.
Morgen!
« Sie wies mit ihrer Kakaokanne unnachgiebig auf ihn. »Und jetzt lass uns die andere Angelegenheit hinter uns bringen.« Brüsk wandte sie sich ab und marschierte die Treppe nach oben.
Abraham sah ihr unglücklich nach. »Dann aber wirklich morgen«, murmelte er missmutig.
Lukas sah ihn fragend an. »Was war
das
denn?«
»Es liegt am Datum«, murrte Abraham ohne weitere Erklärung. »Aber wie dem auch sei: Versuchen wir zunächst, unseren Gegnern zuvorzukommen. Denn ich habe da bereits einen kleinen Aufbau vorbereitet.«
»Einen
was?
«
»Ihr werdet schon sehen. Wenn ich um Hilfe bei den Stufen bitten dürfte? Wir müssen nämlich ebenfalls nach oben.«
Zarte Seelen
L ukas hob den kleinen Zauberer verwundert an und folgte Millepertia, die an seinem Zimmer vorbeilief und die Tür zu einer Kammer ganz hinten auf der Galerie öffnete. Sie betraten einen kargen, nur unzureichend von Kerzen beleuchteten Raum mit steinernen Wänden, die über
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