Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
Sofort!«, schrie Lukas.
Abraham handelte augenblicklich. Er beschrieb mit seiner winzigen Rechten eine wischende Bewegung, und der Junge hörte schlagartig auf zu schluchzen. Er setzte sich wieder und schloss die Augen.
»Ich gebe zu, das war haarscharf«, fluchte Abraham. »Offenbar beschwört Faust in diesem Moment Abaddon erneut aus dem Infernalischen Abgrund. Damit habe ich nicht gerechnet.«
»Toll. Ich hoffe für Sie, dass dem Jungen nichts passiert ist«, herrschte ihn Lukas an.
»Nein, ist es nicht.« Millepertia stand neben dem Kleinen, strich ihm mitfühlend über den Kopf und hob erst das rechte und dann das linke seiner Augenlider an. »Er schläft tief und fest. Er wird sich an nichts erinnern.«
»Faust beschwört also gerade wieder Abaddon in unsere Welt«, stellte Lukas wütend fest. »Das ist ehrlich gesagt nicht gerade die Art von Erkenntnis, die ich mir bei dem ganzen Aufwand erhofft hätte.«
»Mir ergeht es ebenso«, gab Abraham niedergeschlagen zu. »Andererseits lassen sich aus der gemachten Beobachtung andere Dinge erschließen. Denn Faust wendet in diesem Augenblick erhebliche Ressourcen auf, um den Helljäger erneut zu beschwören. Und das könnte man als Verzweiflungstat deuten. Denn wenn Faust Abaddon nicht zwingend bräuchte, nähme er diese Mühen nicht auf sich. Ich komme daher zu der Conclusio, dass Faust das Geheimnis der dritten Teufelsträne bislang verborgen geblieben ist. In Anbetracht der Umstände ist das eine hoffnungsvolle Nachricht. Wir können ihm also zuvorkommen.«
»Und was, wenn er sich die
Devils
schnappt und mit ihnen erneut versucht, Arnold von Wieds Seele heraufzubeschwören?«, fragte Lukas nicht ohne Sorge. »Seine Knochen lagen noch auf dem Kandel, als wir den Berg verließen.«
»Gute Frage«, antwortete der Homunkulus. »Doch angesichts der Umstände gehe ich davon aus, dass
er
seine Schützlinge nicht unbewacht lässt. Davon abgesehen bezweifle ich nachdrücklich, dass der alte Bischof jemand anderem als Euch Auskünfte erteilt. Schon gar nicht Doktor Faust.«
Lukas nickte bloß.
»Wir werden morgen aufbrechen«, sagte Millepertia mit fester Stimme. »Bring jetzt den Jungen zurück, Abraham. Wir anderen sollten uns ausruhen. Gut möglich, dass wir danach lange Zeit nicht mehr dazu kommen.« Sie wandte sich Lukas zu. »Das gilt vor allem für dich. Du musst von letzter Nacht noch immer erschöpft sein.«
Lukas wollte widersprechen, denn tatsächlich fühlte er sich relativ ausgeruht. Auf der anderen Seite erschien ihm Millepertias Verhalten sonderbar. Fast, als wolle sie ihn und Abraham loswerden. Warum? Er würde es herausfinden. Und so nickte er und begleitete Abraham und den in Trance versetzten Jungen nach unten, zu der seltsamen Wand des Turmzimmers, in der das magische Pendant eines Fahrstuhls verborgen lag. Die Wand öffnete sich, und Millepertia sah Abraham und dem Kleinen traurig hinterher. Wortlos wandte sie sich ab und ging wieder nach oben in ihr Zimmer.
Lukas war sich inzwischen sicher, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmte. Eine innere Stimme sagte ihm, dass es besser war, sie nicht mit Fragen zu behelligen. Er eilte daher ebenfalls zurück auf die Galerie, schnappte sich in der Kammer mit dem Wasserbecken die Kakaokanne und warf sich in seinem Zimmer auf das Bett.
Während die Nacht über Worms hereinbrach, machte er sich mit Hilfe seines Smartphones mit der Barbarossa-Sage, dem Kyffhäusergebirge und der dortigen Reichsburg vertraut. Derweil lauschte er immer wieder aufmerksam in Richtung Galerie. Einige Zeit später hörte er unten aus dem Hauptraum das Schaben der Ziegelwand. Offenbar war Abraham zurückgekehrt. Bald darauf wurde es wieder still im Turm, und Lukas rief ein Foto auf, das er in Heidelberg heimlich von Millepertia aufgenommen hatte. Er betrachtete es eingehend, dann seufzte er. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Sie bedeutete ihm inzwischen mehr, als er für möglich gehalten hätte. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer spröden Art. Dabei war es ungewöhnlich für ihn, dass er bei ihr nicht in erster Linie daran dachte, wie er sie ins Bett bekommen konnte. Und das, obwohl Millepertia unzweifelhaft anziehend war und ihm der Gedanke daran schon einige Zeit durchs Hirn geisterte. Beklommen schaltete er sein Handy aus, legte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen aufs Bett und starrte zur Zimmerdecke empor. Dass auch er ihr nicht unsympathisch war, fühlte er. Doch durfte er es zulassen, sich
Weitere Kostenlose Bücher